: Der Anfang vom Ende
Vor 80 Jahren kapitulierte die Wehrmacht in den Trümmern von Stalingrad. Thomas Mann kommentierte kurz darauf die Reaktionen des NS-Regimes. Wie der Literaturnobelpreisträger mit seinen Radioansprachen aus den USA den Kampf der Alliierten gegen die Nazis unterstützte
Von Klaus Hillenbrand
Die Wehrmacht hatte sich in den Resten des Kaufhauses Univermag in den Ruinen Stalingrads eingegraben. Die Lage der Nazi-Armee war hoffnungslos. Von allen Nachschubverbindungen getrennt, zum Schluss in einen Süd-, einen Mittel- und einen Nordkessel aufgespalten, kämpften die Soldaten der 6. Armee auf Befehl Hitlers auch dann noch, als das Ende unabwendbar war. Am 31. Januar 1943 um 7.35 Uhr funkte die Station aus dem Hauptquartier: „Russe steht vor der Tür. Wir bereiten Zerstörung vor“, bald darauf: „Wir zerstören“. Zwei Tage später, am 2. Februar 1943, kapitulierte auch die Armeeführung des Nordkessels. Die Schlacht um Stalingrad war beendet.
Die Zahl der Opfer war ungeheuerlich. Bis zu eine Million sowjetische Soldaten starben in Stalingrad, nicht gerechnet Zehntausende Zivilisten. Auf Seiten der deutschen Angreifer kamen mindestens 60.000 Soldaten ums Leben. Rund 110.000 gerieten in Gefangenschaft, nur wenige Tausend von ihnen überlebten.
Im nordamerikanischen Los Angeles war der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann in seiner Villa am Pazifik über Stalingrad wohl informiert. Nicht nur war die US-amerikanische Presse voll von Informationen über die Niederlage der Nazis, zudem informierte ihn die britische BBC mit Hintergrundberichten über die Lage in Deutschland. Denn der berühmte Autor der „Buddenbrooks“ war nicht nur Literaturnobelpreisträger, sondern er stand den Alliierten aus seinem Exil heraus zur Seite. Schon seit Oktober 1940 wandte sich Thomas Mann in vom deutschen Dienst der BBC übertragenen Reden ganz persönlich an die daheim gebliebenen Deutschen.
Mann schrieb dazu 1942: „Ich glaubte, diese Gelegenheit, hinter dem Rücken der Nazi-Regierung, die mich jeder geistigen Wirkungsmöglichkeit in Deutschland beraubt hatte, Kontakt zu nehmen – und sei es ein noch lockerer und bedrohter Kontakt – mit deutschen Menschen und auch mit Bewohnern der unterjochten Gebiete, nicht versäumen zu dürfen.“
Den Weg zur BBC hatte offenbar Manns Tochter Erika bei einem Besuch in London 1940 geebnet, die dort Beiträge für den Sender produzierte. Die Sendeleitung hatte schon einige Zeit nach einem deutschsprachigen Autor gesucht, der im Kampf der Propaganda als moralisches Gewissen fungieren konnte, um die Deutschen zur Umkehr zu bewegen. Geplant war zunächst, dass Thomas Mann Berichte über Amerika verfassen sollte, die ein Sprecher im Londoner Studio dann verlesen konnte.
Doch daraus wurde rasch mehr. Thomas Mann begann an das Gewissen der Deutschen zu appellieren. Er ging auf aktuelle Entwicklungen ein und war einer der Ersten, die über den Holocaust berichteten, als viele noch zweifelten, dass so etwas möglich sein könnte. Er prophezeite von Beginn an eine Niederlage der Nazis. Zugleich definierte sich Mann als „Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme; die Stimme eines Deutschland, das der Welt ein anderes Gesicht zeigte und wieder zeigen wird als diese scheußliche Medusen-Maske, die der Hitlerismus ihm aufgeprägt hat“. Die BBC-Leitung äußerte sich in aller Regel begeistert über diese Stimme.
Das Unternehmen war kein einfaches. Denn schon bald nach Sendebeginn entstand der Wunsch, nicht nur Thomas Manns Worte, sondern auch seine eigene Stimme im Deutschen Reich hörbar zu machen. Die damaligen unvollkommenen technischen Möglichkeiten zwangen zu einem komplizierten Verfahren: Manns Reden wurden zunächst in einem Studio in Hollywood auf eine Schallplatte aufgenommen, die anschließend nach New York geflogen wurde. Dort spielte man sie vor einem Mikrofon ab, das mit einer Telefonleitung nach London verbunden war. In London wurde daraus eine neue Platte gepresst und diese schließlich ausgestrahlt – und dabei musste man gegen die Störsender bestehen, mit denen die Nazis den Feindesfunk zu unterdrücken hofften.
Thomas Mann konnte wenig ausrichten. Nach dem Krieg äußerte er sich enttäuscht darüber, dass seine immer wiederkehrenden Aufrufe zum Widerstand kaum etwas bewirkt hätten. Doch tatsächlich dürften hunderttausende Deutsche der moralischen Instanz aus dem fernen Amerika am Radio gelauscht haben, mit den vier Paukenschlägen aus Beethovens fünfter Symphonie als Erkennungszeichen und trotz der Androhung von Zuchthausstrafen, bei Weitergabe des Gehörten gar mit dem Tod. Der deutsche Dienst der BBC galt als besonders vertrauenswürdig, weil er auf propagandistische Übertreibungen verzichtete und ein weitgehend realistisches Bild der Kriegslage bot. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels jedenfalls regte sich 1941 maßlos auf über die „blöde Rede“ des „verkommenen und wurmstichigen Literaten“.
Dabei hatte Mann nach 1933 lange gezögert, wirklich Partei zu ergreifen für die Geknechteten und Unterdrückten, fürchtete um seinen Buchabsatz in der Heimat und ließ sich erst von seinen Kindern überzeugen, dass es für ihn in Deutschland kein Leben mehr geben könnte. „Wo ich bin, ist Deutschland“, mit diesem Satz, gefallen bei seiner Ankunft im amerikanischen Exil 1938, aber hatte er sich wohl übergroße Schuhe übergestreift – als die moralische Stimme Deutschlands außerhalb des NS-Regimes, die sagte, was wirklich ist.
Nun also Stalingrad.
Die Textinhalte der Radioansprachen von Thomas Mann waren 1943 gebildeten Menschen in Deutschland fast immer verständlich. Heute mögen einige von ihnen erklärungsbedürftig sein.
Horst-Wessel-Lied: Der 1907 geborene SA-Sturmführer starb 1930 bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Kommunisten in Berlin. Danach wurde er zu einer Ikone der Nazis. Das von ihm verfasste Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch ...“) wurde zur NSDAP-Parteihymne. Es ist seit 1945 in Deutschland verboten.
Levée en masse (frz. für Massenaushebung) bezeichnet die 1793 im ersten Koalitionskrieg in Frankreich eingeführte Wehrpflicht. Ihr unterlagen alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25. Thomas Mann bezieht sich offenbar darauf, um deutlich zu machen, wie rasch aus Zivilisten Soldaten werden können. Tatsächlich unterlagen dem 1944 von den Nazis gebildeten und völlig unzureichend bewaffneten Volkssturm alle Männer vom Jugendalter bis zu 60 Jahren.
Rudolf Heß (bei Mann: Hess), früherer Privatsekretär Hitlers, ab 1933 „Stellvertreter des Führers“ und mit der Nürnberger „Rassegesetze“-Formulierung betraut, flog im Mai 1941 offenbar auf eigene Initiative nach Großbritannien, geriet dort in Haft. Die Alliierten wussten nicht, ob Heß auf Hitlers Wunsch gekommen war, die Nazis erklärten ihn für verrückt. Heß wurde 1946 zu lebenslanger Haft verurteilt und beging 1987 Suizid.
Iwan Michailowitsch Maiski (bei Mann: Maisky) war von 1932 bis 1943 Botschafter der Sowjetunion in Großbritannien. Nach der Aufdeckung des Massakers von Katyn, bei dem die Sowjets 1940 mehr als 4.000 gefangengenommene polnische Offiziere ermordet hatten, wurde er im März 1943 nach Moskau zurückgerufen und bald darauf als stellvertretender Außenminister auf einen unbedeutenden Posten abgeschoben. Er starb 1975 in Moskau. (klh)
Es ist nicht so, dass diese Niederlage erst im Nachhinein von Historikern zum Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs erklärt wurde, damals, als das deutsch kontrollierte Gebiet seine größten geografischen Ausmaße angenommen hatte und der Massenmord an den Juden in vollem Gang war. Was das bedeutete, war jedem klar, der in der freien Welt eine Zeitung lesen konnte. „Die Zerstörung von dem, was von der 6. deutschen Armee in Stalingrad übrig geblieben war, schreibt das Ende einer Geschichte, die Generationen lang lebendig bleiben wird“, prophezeite die New York Times. „Hunnen-Armee geschlagen“, hieß es im britischen Daily Mirror, „Historischer Sieg“ nannte es die Schlagzeile des Evening Telegraph, während der Guardian schon am 27. Januar 1943 von 40.000 toten und 28.000 gefangen genommenen Deutschen berichtete.
Thomas Mann griff in seiner Rede, deren genauer Sendetermin nicht bekannt ist, auf, wie die Nazi-Führung auf ihre Niederlage reagierte. Er tat dies mit drastischen Worten, die kennzeichnend für seine Radioansprachen waren. Und traf den Nagel auf den Kopf: Weil das Regime das Desaster angesichts seiner Ausmaße nicht verschweigen konnte, funktionierte es die Niederlage um in einen heroischen Kampf gegen das Böse an sich. Und die Opfer waren selbstverständlich nicht umsonst gestorben, sondern hatten Deutschland gerettet.
Tatsächlich meldete das Oberkommando der Wehrmacht am 3. Februar 1943: „Unter der Hakenkreuzfahne, die auf der höchsten Ruine von Stalingrad weithin sichtbar gehisst wurde, vollzog sich der letzte Kampf. Generäle, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften fochten Schulter an Schulter bis zur letzten Patrone. Das Opfer der Armee war nicht umsonst. Sie starben, damit Deutschland lebe.“
Aus Goebbels Tagebüchern geht hervor, dass dieser rasch begriff, dass man die Nachricht von der Niederlage Stalingrads nicht wie bisher unterdrücken konnte. Hitler als Oberbefehlshaber durfte freilich nicht in Verbindung mit Stalingrad gebracht werden, und so übernahm Hermann Göring schon am 30. Januar 1943 den Job, die „Volksgenossen“ über Rundfunk auf die Niederlage vorzubereiten. Er sprach vom „Kampf der Nibelungen“, die ihren Durst mit dem eigenen Blut gelöscht, die aber bis zum Letzten gekämpft hätten. „Ein solcher Kampf tobt heute dort, denn ein Volk, das so kämpfen kann, muss siegen.“ Es folgte ein Ausflug in die griechische Mythologie. Aus den Angreifern in Stalingrad wurden „Verteidiger“, die durch ihren heroischen „Widerstand“ einen Erfolg der „Russen“ verhindert hätten.
Thomas Mann sah das etwas anders. Er rückte die Dinge wieder gerade und entlarvte den „elenden Schwindel“.
Die Niederlage von Stalingrad führte auf geradem Weg zu Goebbels berühmt-berüchtigter Rede vom 18. Februar 1943, in der er den „totalen Krieg“ beschwor. Und von dort nach Kiew, in die Normandie, ins befreite Rom – bis in die Trümmer der Reichskanzlei im Mai 1945 in Berlin mit einem toten und angekokelten Adolf Hitler.
Dass Thomas Mann im Nachhinein nicht immer richtig lag, zeigt bereits der Beginn seiner Ansprache vom Februar 1943. Denn selbstverständlich stellen die Taten der Nazis ihre Worte in den Schatten, und gerade Mann, der schon im Vorjahr über die Massenmorde im Warschauer Ghetto und in Minsk gesprochen hatte, wird das wohl auch gewusst haben. Mindestens ebenso zweifelhaft ist Manns Einschätzung über die Ziele der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, wo er der Versicherung Stalins und seiner Getreuen, man wolle künftig keiner Nation in Europa eine Regierungsform aufzwingen, ungeprüft Glauben schenkt. Es kam bekanntlich etwas anders.
Aber Thomas Manns Radiosendungen nach Deutschland waren eben nicht nobelpreisverdächtig. Sie wurden vom Autor in jeweils ein, zwei Tagen in Los Angeles geschrieben und waren Teil der psychologischen Kriegsführung der Alliierten, die es selbstverständlich nicht zulassen konnten, dass ein Verbündeter kritisiert wurde. Wobei, was Thomas Mann betraf, eine Zensur seiner Reden nicht stattfand.
Möglicherweise haben die Radioansprachen von Thomas Mann dabei geholfen, Zweifel im Nazireich zu sähen. Haben sie den Krieg schneller zu einem Ende gebracht? Vielleicht um drei Minuten. Aber schon dafür haben sie sich gelohnt.
Thomas Manns Sendungen kann man nachlesen: „Deutsche Hörer!“ ist als Fischer-Taschenbuch erschienen (15 Euro). Sonja Valentin hat ausführlich seine Ansprachen analysiert in „Steine in Hitlers Fenster“ (Wallstein-Verlag, 29,90 Euro).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen