Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan: Bedingt aufnahmebereit
In drei Monaten Aufnahmeprogramm ist nicht ein Mensch dadurch nach Deutschland gekommen. Hilfsorganisationen kritisieren das Verfahren.
Auf taz-Anfrage erklärt das Bundesinnenministerium (BMI) den schleppenden Start mit „komplexen Rahmenbedingungen“ und „völlig neuen Verfahren“ mit „einer Vielzahl von Akteuren“. Mit ersten Aufnahmezusagen besonders gefährdeter Afghan:innen werde „in den kommenden Wochen gerechnet“.
Dabei wird ein Ausweg für Betroffene immer dringlicher. Die humanitäre Lage verschärft sich zusehends. So verboten die Taliban jüngst Frauen unter anderem, an Universitäten zu studieren und für nationale wie internationale NGOs zu arbeiten.
Bundesregierung erreichten Anfragen im fünfstelligen Bereich
Die Bundesregierung hatte das Aufnahmeprogramm bereits Ende 2021 im Koalitionsvertrag angekündigt, aber erst am 17. Oktober 2022 verkündet. Durch den Ukrainekrieg und durch Meinungsverschiedenheiten mit der Zivilgesellschaft verschob sich der Start. Nun sollen bis zu 1.000 Afghanen pro Monat aufgenommen werden, zunächst bis Ende der Legislaturperiode. Bedrohte Afghanen müssen sich dabei neuerdings bei sogenannten meldeberechtigten Stellen melden. Dies sind Vereine, Verbände und NGOs aus der Zivilgesellschaft. Sie sagen insbesondere zu, für das BMI und das Auswärtige Amt (AA) eine Kernfunktion zu übernehmen: das Anlegen und Ausfüllen der Anträge für gefährdete Afghan:innen.
So meldeten sich in den Tagen nach Bekanntmachung des Programms über Links im Netz mehrere Zehntausend Menschen bei Hilfsorganisationen wie Kabul Luftbrücke, Mission Lifeline und Reporter ohne Grenzen. Auch die Bundesregierung erreichten Anfragen im fünfstelligen Bereich. Doch angekommen ist in Deutschland bisher keiner dieser Hilfesuchenden.
Vor allem der Umgang mit dem 40-seitigen Online-Meldebogen für die Betroffenen, der der taz vorliegt, ist dabei umstritten und wenig transparent. Menschenrechtler:innen bezweifeln, dass damit tatsächlich die am stärksten gefährdeten Personen rasch Aufnahme finden. Auch besteht Sorge, dass verschiedene Gruppen unter den Antragsteller:innen gegeneinander ausgespielt werden könnten.
Das Bundesaufnahmeprogramm möchte vor allem „besonders gefährdete“ Menschen aus Afghanistan erfassen. Im Einzelnen: Aktivisten für Frauen- und Menschenrechte, aus den Bereichen Justiz, Politik, Medien, Kultur und Sport. Dazu Personen, die sich in Wissenschaft, Bildung oder der LGBTQI-Community besonders exponiert haben und als individuell gefährdet gelten oder die aufgrund ihrer Religion verfolgt werden.
Welche Kriterien dabei wie gewichtet werden, legen BMI und AA nicht offen. „Die völlige Intransparenz beim aktuellen Punktesystem ist der größte Kritikpunkt“, so ein Rechtsanwalt, der für eine der involvierten Organisationen aktiv ist und anonym bleiben möchte. „Die Zivilgesellschaft möchte nachvollziehen, nach welchen Kriterien die von ihren Mitarbeitern aufwendig aufbereiteten Information bewertet werden.“
Punktesystem undurchsichtig
Im Antragsverfahren errechnet ein IT-basiertes Punktesystem, welche Personen Aufnahme finden sollen. „Anfangs war viel von einem Algorithmus die Rede, der anstelle von Menschen entscheidet“, so Stephanie Huber-Nagel von Reporter ohne Grenzen, einer der meldeberechtigten Stellen. „In Wirklichkeit handelt es sich eher um ein Scoring-System, über dessen Vergabekriterien wir keine Einblicke haben, was wir stark kritisieren. Wir hoffen sehr, dass nötige Anpassungen hier noch erfolgen können.“
Kritik, die bisher am BMI abprallt: Bereits vor dem Start des Programms habe es einen intensiven Austausch mit den am Programm interessierten NGOs und Vereinen zu allen Verfahren und Prozessen gegeben.
Axel Steier von Mission Lifeline dagegen kritisiert die Art und Weise, wie sich das BMI die finale Auswahl vorbehält und offenlässt, welche Informationen es mit der höchsten Punktzahl bedenkt. Der Online-Meldebogen frage etwa deutsche Sprachkenntnisse ab, gemachte Reisen nach Deutschland und die vermutete Integrationsfähigkeit der Betroffenen. „Das macht den Eindruck, als gehe es weniger um die akute Gefährdung von Betroffenen als um ihre mutmaßliche Nützlichkeit für die deutsche Leistungsgesellschaft“, kritisiert Steier.
Wer kein Deutsch oder Englisch spreche, meint Steier, habe kaum die Chance auf Aufnahme, obwohl er womöglich in erheblicher Gefahr schwebe. „Ehemalige Ortskräfte, etwa Fahrer in deutschen Diensten, Polizisten oder Militär, die Deutschland in den vergangenen zehn Jahren geholfen haben und womöglich gefoltert wurden oder denen dies akut droht, blieben außen vor dabei“, fürchtet er.
Bei Mission Lifeline sind seit Start des Programms mehr als 28.000 Hilferufe aus Afghanistan eingegangen. Hinzu kommen rund 1.500 ältere Fälle aus den Jahren 2021/22. „Wir bearbeiten jeden einzelnen Fall ausführlich und ordnen ihn ein“, so Steier. „Das tun wir mit fünf halben Stellen bei uns. Alle sind finanziert aus Spendenmitteln. Das reicht vorne und hinten nicht, um alle Fälle zeitnah zu bearbeiten.“
Auch andere von der taz befragte meldeberechtigte Stellen klagen, sie seien an der Grenze ihrer Kapazitäten. Diese Stellen der Zivilgesellschaft möchten zugleich anonym bleiben. Spräche sich herum, dass sie weitere Hilferufe annehmen, fürchteten sie eine nicht zu bewältigende Menge an neuen Anfragen.
Zugleich sind die Mitarbeiter der meldeberechtigten Stellen aufgrund der neuen Onlineverfahren und Sicherheitsparameter des Programms auf technische Hilfe angewiesen. Dafür hat die Bundesregierung eine Koordinierungsstelle eingesetzt, die der Zivilgesellschaft zur Seite stehen soll. Sie umfasst aktuell 16 operative Stellen und weitere 16, die 2023 geschaffen werden sollen. Finanziert wird dies vom BMI mit rund 3,3 Millionen Euro.
Unterschiedliche Angaben über Aufnahmeberechtigte
So sind wegen der Last der ehrenamtlichen Mitarbeiter aufseiten der Zivilgesellschaft neuerdings auch mögliche Gelder für die meldeberechtigten Stellen im Gespräch.
„Die Koordinierungsstelle hat uns gefragt: Wie viel Personalbedarf habt ihr? Wie viel Geld braucht ihr?“, so Axel Steier von Mission Lifeline. „Aber über dieses Stöckchen werden wir nicht springen. Sollten öffentliche Gelder den Mangel an Transparenz im aktuellen Verfahren zementieren, steigen wir lieber aus dem Programm aus.“
Strittig ist zwischen Politik und Zivilgesellschaft zudem, wie viele Menschen überhaupt Anspruch auf Aufnahme haben. In das neue Programm fließen auch frühere Fälle ein, unter anderem aus dem Ortskräfteverfahren. Die Bundesregierung spricht von bisher über 28.000 gefährdeten Afghaninnen und Afghanen, die über verschiedene Aufnahmewege bereits nach Deutschland eingereist seien – womit man im EU-Vergleich weit vorne liege. Auf taz-Anfrage bleibt unklar, wie viele Ortskräfte – also afghanische Helfer im deutschen Auftrag – noch in Afghanistan ausharren und hier aufnahmeberechtigt wären.
Organisationen wie Mission Lifeline fechten die Zählweise an. In Deutschland seien bisher nur 5.000 Ortskräfte mit Familie angekommen, so Axel Steier. „Es fehlen darin aber nach meiner Rechnung weitere 30.000 Ortskräfte, die in Gefahr schweben – plus ihre Familien. Insgesamt sind es rund 120.000 Menschen mit Anspruch auf Schutz und Aufnahme“.
BMI und AA arbeiten parallel zum Bundesaufnahmeprogramm an einer Zahl von Fällen aus dem Ortskräfteverfahren und der sogenannten Menschenrechtsliste aus der Zeit direkt nach Rückkehr der Taliban im August 2021. In vielen dieser Fälle, so ein Fachmann, der als Bindeglied zwischen AA und Zivilgesellschaft arbeitet und anonym bleiben möchte, habe das AA afghanische Mitarbeiter und Helfer sowie Menschenrechtsaktivisten nicht berücksichtigt und ihre Anträge möglicherweise nicht einmal angeschaut.
„Ich sehe vor allem das BMI als Bremser“, meint Axel Steier von Mission Lifeline. Nach dem Wechsel zur Ampel-Bundesregierung seien viele Fachexperten in den Ministerien die Gleichen geblieben. „Oft mit einer politischen Linie, die mich an die Zeit unter Horst Seehofer erinnert.“
Unklar ist auch, wie mit besonders gefährdeten Afghanen in Drittstaaten umgegangen wird. Aufnahme im neuen Programm findet offiziell nur, wer in Afghanistan lebt und dort als verfolgt gilt. Hunderte von Betroffenen, so Anwälte aufseiten der Zivilgesellschaft, befänden sich aufgrund gemachter Zusicherungen aber bereits in Nachbarstaaten wie Iran, Pakistan oder Tadschikistan. Sie zur Rückkehr nach Afghanistan aufzufordern, könne den Betroffenen nicht zugemutet werden. Es drohten unkalkulierbare Risiken. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Die De-facto-Machthaber in Kabul stellen zurzeit keine Pässe aus. Auch nötige Ausreisevisa sind Mangelware.
Ein Scheitern würde alle treffen
NGOs und Verbände fordern deshalb, die Politik müsse rasch nachbessern. Erschwerend kommt hinzu, dass Deutschland seit der Rückkehr der Taliban im August 2021 keine operierende Botschaft mehr im Land hat. Man setze daher „auf die Expertise derjenigen, die in Afghanistan tätig waren“ und „einen besonderen Bezug zum aufzunehmenden Personenkreis haben“, heißt es im Beamtendeutsch des BMI über die Hilfe der Zivilgesellschaft, ohne die es augenscheinlich nicht geht.
Trotz aller Versicherungen: Auch eine Organisation wie Pro Asyl steht dem Deal abwartend gegenüber. Wie lange hält der fragile Pakt zwischen Bund und Zivilgesellschaft zum Aufnahmeprogramm für Afghanistan also? Raufen sich beide Seiten am Ende zusammen, weil ein Scheitern alle treffen würde? Günter Burkhardt von Pro Asyl fordert neben einem veränderten Antragsverfahren vor allem ein rasches, reformiertes Ortskräfteverfahren mit beschleunigtem Familiennachzug. Eine Türsteherfunktion für ein wenig ausgegorenes Bundesaufnahmeprogramm wolle die Zivilgesellschaft nicht übernehmen.
„Früher oder später werden Teile der Zivilgesellschaft aus dem Programm aussteigen“, vermutet Axel Steier. Seine Organisation werde die nächsten Monate beobachten, was mit den weitergeleiteten Fällen passiert. „Sollten sich keine der von uns gemeldeten Fälle unter den Aufgenommenen befinden, wäre dies ein Zeichen, einen Haken darunter zu machen.“
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