Zensuren auf dem Prüfstand: Mehr Notenfreiheit in Niedersachsen

Eine Äußerung der grünen Kultusministerin belebt die alte Noten-Debatte. Die Abschaffung von Zensuren bleibt trotzdem Utopie.

Ein Schulzeugnis liegt auf einem Tisch in einem Klassenraum.

Zensuren sind oft ungerecht und unzureichend, eine Abkehr davon ist aber auch nicht ganz einfach Foto: David Inderlied/dpa

HANNOVER taz | Es ist wahrscheinlich eine typische Zwischen-den-Jahren-Debatte: Die Deutsche Presseagentur hat im rot-grünen Koalitionsvertrag für Niedersachsen eine Passage ausfindig gemacht, in der angekündigt wird, dass Schulen künftig mehr Freiheiten in der Leistungsbeurteilung bekommen sollen.

Auf Nachfrage bestätigt Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne) genau das. Sie sagt wohlgemerkt nicht: „Noten gehören abgeschafft“. Sondern: Man wolle andere Modelle möglich machen, wenn Schulen das wünschen.

Aber das Schöne an Bildungsdebatten ist natürlich nicht nur, dass jeder etwas dazu zu sagen hat, sondern auch, dass auf bestimmte Reflexe Verlass ist, die dafür sorgen, dass sich die Debatte seit 50 Jahren im Kreis dreht.

In diesem Fall liefert sie Torsten Neumann vom „Verband Niedersächsischer Lehrkräfte“ (VNL/VDR, früher Realschullehrerverband): Notenverzicht sei wieder eine deutliche Abkehr vom Leistungsgedanken in der Schule, sagte er der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ).

Wer tatsächlich immer noch glaubt, dass Ziffernnoten objektiv das Leistungsvermögen von Schü­le­r*in­nen widerspiegeln, der muss auch glauben, dass Mädchen klüger sind als Jungs. Immerhin erzielen die nun schon seit Jahrzehnten konstant bessere Noten. Seltsam, dass sich das nachher im Berufsleben und in den Gehältern so gar nicht wiederfindet.

Die Wahrheit ist: Noten spiegeln vor allem Anpassungsvermögen wider. Sie zeigen, wer hier schnell kapiert, was gefragt ist und das dann auch bereitwillig liefert.

Deshalb sind sie für Unternehmen so wichtig: Sie sagen relativ zuverlässig voraus, wer einen guten Angestellten abgibt. Auch für formalisierte Auswahl- und Zulassungsprozesse sind sie das Mittel der Wahl. Deshalb hat die Kultusministerin Abschlussjahrgänge auch sofort ausgenommen von der Notenfreiheit.

Schlechte Noten demotivieren

Für den Lernprozess tun Ziffernnoten dagegen nachweislich selten Gutes: Erstens sind sie ein Einfallstor für die unbewussten Erwartungen und Vorurteile der Lehrkräfte, wie unzählige Studien belegt haben. Deshalb (aber nicht nur) schneiden Jungs und Migrantenkinder häufig schlechter ab. Deshalb werden sie vor allem von jenen energisch verteidigt, deren Kinder daraus Vorteile ziehen.

Es hat seinen Grund, warum selbst konservative Lehrkräfte zögern, die Notenskala von 1 bis 6 voll auszuschöpfen. Schlechte Noten haben eine durchschlagend demotivierende Wirkung. Eine 5 in Deutsch oder Mathe signalisiert eben häufig nicht: „Du musst dich mehr anstrengen“, sondern: „Das kannst du eben nicht“. Es ist eine normale Reaktion, in solchen Fällen die Anstrengungen ganz einzustellen – so schützt sich das Ego vor weiteren bitteren Niederlagen.

Deshalb ist es pädagogisch klüger, Lernerfolge festzuhalten und dann daran anzuknüpfen, aufzubauen statt niederzutrampeln. Trotzdem – das haben die Erfahrungen in den Grundschulen, Gesamt- und Oberschulen sowie unzählige Schulversuche gezeigt – ist es nicht ganz einfach, Ziffernnoten zu ersetzen.

Warum es so schwer ist, Ziffern zu ersetzen

Ziffernnoten sind ein einfaches, allen Beteiligten geläufiges, gelerntes System – wenn man es einfach durch Textbausteine ersetzt, bilden sich unter Eltern schnell regelrechte „Lesezirkel“, die sich an einer Rückübersetzung in Ziffern versuchen.

Vor allem Eltern, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, tun sich hiermit schwer. Es geht dabei ja nicht nur darum, dass man sich Gedanken um die Zukunft des Kindes macht. Gute Noten sind für Eltern auch oft der Beleg, dass sie ihren Job gut gemacht haben.

Und auch Kinder haben oft das Bedürfnis, sich aneinander und untereinander zu messen. Sie wollen nicht nur wissen, wo sie selber stehen, sondern auch, wo sie im Verhältnis zu anderen stehen.

Zu glauben, man könnte das umgehen, indem man nach dem Motto „Jedes Kind bekommt eine Medaille“ verfährt, ist oft fruchtlos, weil sich dieser Wettbewerb, dieses unterschwellige Konkurrenzverhältnis, dann nur auf andere Felder verlagert.

Wichtiger wäre es, Kindern beizubringen, wie man dabei sportlich und fair bleibt – und dass eine Niederlage hier und eine schlechte Bewertung dort niemals die ganze Person betrifft, sondern eben nur diesen einen Leistungsbereich.

Aber auch von den Lehrkräften verlangen individuellere Leistungsbeurteilungen viel. Natürlich ist es für Kinder und Jugendliche wichtig, gesehen zu werden, in ihrem Bemühen oder Verweigern. Nichts killt ihre Motivation so nachhaltig wie der Eindruck, es sei egal, was sie machen.

Zugleich gehen detaillierte Leistungsbeurteilungen und persönliche Feedback-Gespräche schnell ans Eingemachte: Da geht es dann eben nicht mehr um klar umrissene Leistungsbereiche, die mit soundso viel Prozent auf die Gesamtnote durchschlagen.

Da wird aus „Das kannst du“ und „Das musst du noch lernen“, schnell ein „Du bist soundso“. Das verleiht der persönlichen Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernendem viel Gewicht. Manchmal auch unheilvolles Gewicht, wenn es auf der einen Seite an professioneller Distanz, Erfahrung, Fingerspitzengefühl und Selbstreflexion fehlt. In einem Fachlehrersystem mit vielen Wechseln ist das auch organisatorisch schwierig.

Möglicherweise war es deshalb ganz richtig von der Kultusministerin, den Schulen die Entscheidung freizustellen. Das könnte an der ein oder anderen Stelle zumindest dazu führen, dass sich noch einmal intensiv damit auseinandergesetzt wird, wie man Zensuren vergibt und was man damit bewirken möchte.

Zugleich gibt es eben nicht das eine Modell, das der Weisheit letzter Schluss ist und das man deshalb mal eben von oben herab schnell verordnen kann. Und die Kraft, sich auf eine Reihe von heftigen Debatten auf Elternabenden und Konferenzen einzulassen, muss eine Schulgemeinschaft ja auch erst einmal aufbringen. Im Moment haben die meisten wohl dringendere Probleme.

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Niedersachsen-Korrespondentin der taz in Hannover seit 2020

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