Zwischen Nordbahnhof und Südkreuz: Ersatzverkehr nach Nirgendwo
Das Berliner Nachtleben ist immer für überraschende Begegnungen gut – wenn nicht auf der Party, dann eben im chronisch gestörten Nahverkehr.
I ch bin genervt! Es ist Samstagnacht kurz vor 2 Uhr – und ich will nach Hause. Sperrungen im öffentlichen Nahverkehr sind in Berlin ja keine Überraschung, aber diesmal betrifft es den S-Bahn-Tunnel, der die Nord-Süd-Verbindung der Stadt darstellt. Zwischen Nordbahnhof und Südkreuz fahren nur Busse im Ersatzverkehr. Nachts dürfte es hoffentlich schnell gehen. Denkt man.
An der Friedrichstraße aber müssen die drei besoffenen Russen und ich aussteigen. Hier endet die Fahrt und man muss umsteigen. Mir ist weder klar, warum das so ist, noch wo genau sich die Haltestelle befindet. Als ich sie endlich finde und renne, sehe ich nur noch die Rücklichter des Busses. Ich fluche wie ein Bierkutscher und ein kleiner Mann ruft auf Englisch, dass der Fahrer ihn noch gesehen hätte und einfach losgefahren sei.
Er sei sehr müde, denn er komme von der Arbeit an der Bar in einem Restaurant am Alexanderplatz. Ich meckere auf Englisch, dass ich nicht verstehe, warum man ausgerechnet in der Nacht den Ersatzverkehr nicht in einem Stück plant, sondern einen Umstieg vorsieht. C. nickt und lächelt. „Where do you come from?“, fragt er. Er findet, ich hätte Temperament. Es klingt anerkennend und ich muss lachen. „Berlin“, antworte ich.
Flucht vorm Drogenkrieg
C. erzählt, dass er vor zehn Jahren mit seiner Familie aus El Salvador kam. Er hat einen Sohn, erzählt er, und zeigt dessen Größe, indem er die Hand eine Armlänge über seinen Kopf hält. „21“, sagt er stolz. Da kommt der Bus, wir steigen ein und er fragt, ob ich mich zu ihm setze. Ich nicke.
Er erzählt weiter: Zunächst seien sie in Hamburg gelandet, jetzt in Berlin, der Job sei hier besser und sein Sohn verdiene als Straßenbauer gutes Geld dazu. 660 Euro koste die Einzimmerwohnung und sein Sohn habe immer Hunger. C. macht eine Geste voller liebevoller Hochachtung. Deutschland sei sicher teuer, meint er und lacht. Doch alles besser, als in El Salvador einfach auf der Straße umgebracht zu werden.
Ob ich schon mal von den Drogenkriegen gehört hätte? Ich schlucke und nicke. Sie mussten gehen, um ihr Leben zu retten. Das Leben seines Sohnes, fügt er hinzu, sieht mich an und vergewissert sich, dass ich verstehe. Ich nicke betreten und denke daran, dass ich mit meinen Kindern in Moabit mal den Spielplatz wechseln musste, weil ständig benutzte Spritzen herumlagen.
Wie muss es sein, wenn man gleich das ganze Land, sogar den Kontinent, verlassen muss? Ich frage, ob er hierbleiben dürfe. „Yes“, lächelt er und sagt, er könne im nächsten Jahr seinen deutschen Pass beantragen. Vorher wäre noch ein Deutschtest dran. Und dann sagt er im allerbesten Deutsch: „Wenn ich müde bin, spreche ich lieber Spanisch oder Englisch. Ich bin sehr müde jetzt.“
Alles richtig gemacht
Er fragt, ob ich Kinder habe und verheiratet sei. Ja, sage ich, zwei Kinder, Sohn und Tochter. Sie wären auch schon groß. „Sehr gut“, findet er und hebt einen Daumen. „We did everything right.“ Wenn die Kinder am Leben sind und gute Chancen haben, am Leben zu bleiben, sei alles gut gegangen, findet er.
Ich nicke betroffen. Er erzählt von seiner Frau und dass sie sich getrennt hätten. Zweimal sei er verheiratet gewesen. Er hebt zwei Finger. Ich lache und sage: „Na, dann geht auch noch ein drittes Mal.“ Er schüttelt den Kopf. Das wäre das letzte Mal gewesen. Jetzt hätte er wirklich Besseres zu tun.
„Ich muss leider aussteigen“, sage ich bedauernd, und er ruft auf Deutsch: „Komm zum Essen, bring deine Kinder mit, wir haben die besten Burger der Stadt und french fries. Frag an der Bar nach C., dann bekommst du Cocktails von mir.“ Er zwinkert. „It was a pleasure to meet you.“ Ich gebe das Kompliment zurück und wir schütteln uns die Hand. Aus dem Bus heraus winken wir uns noch einmal zu.
Als ich oben auf dem S-Bahnhof ankomme, ist die Bahn grad weg. Die nächste kommt in 28 Minuten. Anstatt mich zu ärgern, bin ich aber mit dieser Begegnung beschäftigt und mit dem Gedanken, dass es fast überall auf der Welt keine Selbstverständlichkeit ist, am Leben bleiben zu können.
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