Buch über die Weimarer Republik: Frauen ohne Begleitung
Harald Jähner zeichnet im Sachbuch „Höhenrausch“ ein faszinierendes Bild über die Weimarer Republik. Mit dabei: komische und schreckliche Geschichten.
Harald Jähner ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Das hat er schon mit seinem letzten Buch „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955“ unter Beweis gestellt, das verdientermaßen mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Als Kulturjournalist hat er einen anderen Zugang zur- und einen anderen Blick auf die Vergangenheit.
Geschichte besteht für ihn aus tragischen, komischen und schrecklichen Geschichten, aus Episoden, die er zum Sprechen bringt und deren Geheimnisse er zu lüften versucht, indem er sie in das große Ganze einfügt und dadurch ein lebendiges Wimmelbild der Gesellschaft entstehen lässt.
Sein Material besteht nicht nur aus Büchern, sondern auch aus Zeitungsarchiven, weil die Nachrichten aus der vergangenen Gegenwart häufig ein anderes, unerwartetes Licht auf ein historisches Ereignis werfen, eben weil sich die tagesaktuellen Meldungen zumeist nicht immer als objektiv erweisen, aber genau deshalb die Atmosphäre der Zeit, um die es geht, sich schillernder und vielschichtiger darstellt. Und Jähner schafft es mit großer Eloquenz und stilistisch elegant, die Ereignisse beziehungsweise eben auch Nichtereignisse zu deuten.
Das schafft er auch mit seinem neuen Buch „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“, in dem er die Weimarer Republik noch einmal neu erzählt, von der man dachte, dass sie zu den am meisten untersuchten Abschnitten deutscher Geschichte gehört.
Geld heiraten, Geld drucken
Bei Jähner macht es großes Vergnügen, sich diesen Zeitabschnitt noch mal vor Augen zu führen. Er lässt dabei nicht nur die zumeist ideologisch bornierten Leitartikel sprechen, sondern führt uns auf die hinteren Seiten der Tagespresse, wo die Kleinanzeigen stehen. Denn auch dort bildet sich gesellschaftliche Wirklichkeit ab, etwa wenn sich an die Front beorderte Soldaten wieder ins zivile Leben zurückmelden. „Heimgekehrt. Alois Feilchenfeld. Übernehme wieder Maureraufträge alle Art.“ Viele suchten nicht nur eine Arbeit, sondern gleich ein einträgliches Einkommen. „Zwillingsbrüder wünschen in gut geführten Getreidehandel einzuheiraten.“
Und merkwürdigerweise schienen die angebotenen Dienstleistungen und Angebote gar nicht so schlecht zu laufen, denn mit Deutschland ging es aufwärts, es herrschte Vollbeschäftigung, während die wirtschaftliche Situation der Siegermächte gar nicht gut aussah, trotz der Reparationen, die dem Verlierer auferlegt wurden. Wie das möglich war?
Indem die Reichsbank einfach Geld druckte. Und man wundert sich. Niemand schien aufzufallen, dass das nicht funktionieren konnte. Um das zu veranschaulichen: Zwei Milliarden Mark waren 1913 im Umlauf, 1919 waren es 45 Milliarden. Nur wenige Jahre später hatte der Staat 98 Milliarden Schulden bei seinen Bürgern, und die waren „nicht mal so viel wert wie ein Sack Kartoffeln“.
Harald Jähner: „Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen“. Rowohlt Berlin, 557 Seiten, 28 Euro
Aber das war noch lange nicht das Ende, denn mehr als fünfzig Druckereien arbeiteten für die Reichsbank und stellten im Herbst 1923 schließlich sogar den Hundertbillionenmarkschein her, der am Ende nicht das Papier wert war, auf dem er gedruckt wurde. Die Deutschen entwickelten sich zu Virtuosen im Rechnen mit Nullen. Nur wenige wussten den rasanten Verfall der Reichsmark für sich auszunutzen und im Devisengeschäft ungeheure Reichtümer anzuhäufen. Es herrschte das Gesetz, „rasch weg mit den Scheinen, bevor sie noch wertloser wurden“.
Es gedieh, wie Sebastian Haffner schrieb, „eine fieberhafte, heißblütige Jugendhaftigkeit, Lüsternheit und allgemeiner Karnevalsgeist“. Das Bild von der Weimarer Republik als „Großbordell“, wie es Otto Dix in seinen Gemälden einzufangen suchte, war prägend.
Die Katastrophe als Auflösung sämtlicher sozialer Beziehungen ging einher mit überfüllten Tanzflächen, um für einen Augenblick alle Sorgen zu verdrängen, aber Jähner beobachtet auch ein anderes Phänomen, nämlich „Frauen ohne Begleitung“, die damals sofort als Prostituierte identifiziert wurden, dabei aber nur lebenshungrige Büroangestellte waren.
Der neue Markt der Sekretärinnen
Das lag daran, dass viele Männer aus dem Krieg nicht zurückgekehrt waren und im Verwaltungssektor ein ungeheurer Bedarf an Sekretärinnen entstanden war – die Zahl der Angestellten verdoppelte sich in nur neun Jahren auf vier Millionen –, und dieser neue Arbeitsmarkt bescherte nicht nur Siegfried Kracauer das Material für seine berühmte Angestelltenstudie, sondern Frauen eine finanzielle Unabhängigkeit, die sie vorher nicht hatten. Der Krieg hatte also nicht nur Leid und Elend hervorgebracht, sondern verlieh auch der Emanzipation der Frau einen ungeheuren Schub.
Nach der Währungsreform im November 1923 setzte ein halbes Jahr später wieder ein Wirtschaftsboom ein, der bis 1929 andauerte, und das möglich machte, was heute als „Roaring Twenties“ bezeichnet wird. In der Architektur forderte Bruno Taut den „Tod alles Muffigen“, und mit dem Bauhaus hielt der Funktionalismus Einzug in die Architektur. 146.000 neue Wohnungen entstanden zwischen 1925 und 1931, so viel wie nie zuvor, auch wenn schon früher eine gewaltige Nachfrage nach Wohnungen existierte.
Ebenso rasant entwickelte sich die Mobilität. 1932 gab es eine halbe Million Autos, viermal so viel wie acht Jahre zuvor. Ähnlich verhielt es sich mit Lkws und Motorrädern und mit ihnen und der auf 4,3 Millionen anschwellenden Bevölkerung Berlins wuchs der Lärm, das Elend, die Kriminalität, die Stadt wurde zum Sinnbild von „wucherndem Dickicht und gefräßigem Dschungel“. Schon damals wurde die Technik als feindlich wahrgenommen, „als Moloch, der den Menschen zu verschlingen drohe“, wie das Döblin in seinem Bestseller „Berlin Alexanderplatz“ beschrieb.
35 Vereine in einem kleinen Dorf
Diesem Moloch glaubte man sich am besten widersetzen zu können, indem man einem Verein beitrat, also sich mit Gleichgesinnten zusammentat. Zehn Prozent der Deutschen suchten in einem Verein Geselligkeit. Das Dorf Korschenbroich mit ca. 5.000 Einwohnern, wenn man die Bewohner in der näheren Umgebung mit dazuzählte, hatte 35 Vereine, ein Phänomen, das in Deutschland eine besonders hartnäckige Tradition hat und selbst durch das Fernsehen nicht vollständig auszurotten war.
Auch der „Reichsbund jüdische Frontsoldaten“ suchte mit mehr als 50.000 Mitgliedern nach Anerkennung in der Gesellschaft und sah in der Vereinssatzung „die Grundlage seiner Arbeit in einem restlosen Bekenntnis zur deutschen Heimat“. Aber dieses Bekenntnis führte nicht zu weniger Antisemitismus, sondern wurde von den Antisemiten vielmehr als Provokation empfunden.
Jähner streut viele Einzelschicksale und Biografien ein, die diese Dekade mitgeprägt haben, um zu verdeutlichen, dass sich diese Zeit nicht nur aus einem bestimmten Blickwinkel erzählen lässt. Er stellt Betrachtungen über den so genannten „Bubikopf“ an, der sehr in Mode war, über neue Tendenzen in der Fotografie, über die wachsende Bedeutung der Magazine, über Autorinnen, Künstlerinnen, Politiker, Philosophen, bis schließlich der Schwarze Freitag der rasanten Entwicklung ein Ende bereitet und der Nationalsozialismus auf propagandistisch geschickte Weise die tradierten Vorurteilsmuster zur gesellschaftlichen Norm erhebt, von der abzuweichen das Leben kosten konnte.
Dabei weist Jähner noch einmal darauf hin, dass Hitler nicht etwa an die Macht kam, weil die Arbeitslosen ihn gewählt hätten, wie viele noch heute annehmen, entscheidend für den Erfolg der Nazis war vielmehr „die Angst vor der Arbeitslosigkeit bei denen, die noch Arbeit hatten“. Es war diese Angst, die die Mittelschicht radikalisierte und damals in den Nazis so wie heute in der „Reichsbürgerschaft“ ihre Erlösung sehen ließ.
Auf diese facettenreiche und ineinander verwobene Weise entschlüsselt Jähner peu à peu die psychologische Struktur der Weimarer Republik. Eine faszinierende Lektüre, die nur eine Enttäuschung hinterlässt, nämlich die Enttäuschung darüber, am Ende des Buches angekommen zu sein. Und der Höhenrausch ist zu Ende.
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