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Afghanistan unter den TalibanUmerziehung per Religion

Thomas Ruttig
Kommentar von Thomas Ruttig

Das Arbeitsverbot für Frauen in Hilfsorganisationen ist nicht nur eine Machtdemonstration. Die Taliban nehmen damit auch viele Hungertote in Kauf.

Afghaninnen protestieren gegen das Uni- und NGO-Arbeitsverbot für Frauen (22. Dezember) Foto: ap

M it dem Arbeitsverbot für Afghaninnen bei Hilfsorganisationen verfestigt sich der Eindruck, dass die Taliban gezielt Rache an jenen Frauen nehmen, die es sich – in ihren Augen – angemaßt haben, die Grenzen der traditionellen ländlichen afghanischen Gesellschaft zu durchbrechen, um eigene Lebensentwürfe umzusetzen. Etwa indem sie studieren oder im humanitären Sektor Verantwortung für ihre Mitmenschen übernehmen.

Das Arbeitsverbot ist Teil eines breiten religiösen Umerziehungsprogramms, dem die Taliban – im Taumel ihres allein der Hilfe Allahs zugeschriebenen Sieges über die USA und ihre Verbündeten – ihre völlig entrechteten Untertanen und Untertaninnen unterwerfen wollen.

Dabei ist es auch den Talibanführern, die die jüngste Verbotslawine losgetreten haben, nicht unbekannt, dass es nur die Hilfsorganisationen waren, die schon während ihrer ersten Herrschaftsperiode von 1996 bis 2001 und zuletzt im drohenden Hungerwinter 2021/22 die grundlegende Versorgung großer Teile der Bevölkerung sicherstellten und Millionen Leben retteten. Auch heute ist die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans von humanitärer Hilfe abhängig.

Angesichts des jetzigen Winters nimmt die Taliban-Führung in Kauf, dass es diesmal zu vielen Hungertoten kommt. Denn die meisten humanitären Hilfswerke habe ihre Arbeit erst einmal eingestellt. Für sie ist der Ausschluss von Frauen eine rote Linie.

Es ist also eine Machtprobe zwischen Leuten, die offenbar aus Prinzip Menschenleben zu opfern bereit sind, und humanitären Werten. Die weniger dogmatischen Taliban hoffen wohl, dass die Humanitären Leben über Prinzipien stellen werden.

Immerhin ist klar, dass viele prominente Taliban dieses Programm nicht teilen. Aber das wird nichts ändern, so lange sie sich nicht gegen ihren Emir stellen. Das allerdings wäre „Aufruhr“, und darauf steht die Todesstrafe. Sie haben also abzuwägen, ob sie die Parteilinie halten und mitschuldig sein wollen am endgültigen Niedergang ihres Landes, oder ihr Leben dafür riskieren, dass es nicht dazu kommt.

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Thomas Ruttig
Autor:in
Mitbegründer des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network Kabul/Berlin (https://www.afghanistan-analysts.org/en/). Abschluss als Diplom-Afghanist, Humboldt-Univ. Berlin 1985. Erster Afghanistan-Aufenthalt 1983/84, lebte und arbeitete seither insgesamt mehr als 13 Jahre dort, u.a. als Mitarbeiter der DDR-, der deutschen Botschaft, der UNO und als stellv. EU-Sondergesandter. Seit 2006 freischaffend. Bloggt auf: https://thruttig.wordpress.com zu Afghanistan und Asylfragen. Dort auch oft längere Fassungen der taz-Beiträge.
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7 Kommentare

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  • Ein eigenartiger Kommentar!



    Ist doch der Sinn eines Kommentars, dass jemand Stellung bezieht, was Herr Ruttig tunlichst vermeidet, wohl wissend dass eine Medaille gewöhnlich zwei Seiten hat.

    Wenn auf der einen Seite steht „Taliban nehmen Hungertote in Kauf“ könnte auf der anderen stehen „Sollen die kleinen Scheißer doch krepieren. Wir haben unsere Prinzipien.“

    Er deutet allerdings an, klarer noch in seinem ausführlicheren Text, dass auch intelligentere Reaktionen und Entwicklungen möglich sind.

    Gut gemacht!

  • Es gibt also gemäßigte und radikale Taliban?

    So wie gemäßigte und radikale Nationalsozialisten gab?