: „Die Gefahr ist groß, in ein Loch zu fallen“
Elena Lysenko und Julia Rudakova sind aus der Ukraine geflohen und beraten nun ukrainische Geflüchtete in Deutschland. Ein Gespräch über Ohnmacht und Selbstbestimmung
, geboren 1973, studierte in Kyjiw an der National Pedagogical University. Sie kam im März 2022 nach Deutschland.
Interview Susanne Messmer
wochentaz: Frau Lysenko, Frau Rudakova, Sie helfen bei der Organisation für psycho-soziale Beratung Ipso Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Was genau machen Sie da?
Elena Lysenko: Wir sind hier ein Team von neun Psychologinnen und einem Psychologen aus der Ukraine und arbeiten viel in Flüchtlingsunterkünften, sind aber auch über die sozialen Medien für Geflüchtete erreichbar, die privat untergekommen sind. Wir sprechen zu zweit, in Gruppen unterschiedlicher Größe, online und vor Ort. Es ist unser Ziel, Menschen zu befähigen, ihre Probleme und Konflikte so früh wie möglich anzugehen, so schnell wie möglich in ihr Leben zurückzukehren, zu entscheiden, was zu tun ist und wie es weiter gehen kann. Wir arbeiten unterstützend und auf Augenhöhe, also mit Interesse, Empathie und Respekt, und zwar unabhängig davon, welchen Hintergrund und unsere Klient*innen haben.
Julia Rudakova: Es geht darum, dass die Menschen sich auf ihre Werte zurückbesinnen, aus ihrer Ohnmacht herauskommen und wieder das Gefühl zurückgewinnen, ihre Situation selbst unter Kontrolle haben und in die Handlung kommen zu können.
Das klingt nach einer großen Aufgabe in Anbetracht der Mehrheit der Geflüchteten, die noch auf Unterstützung angewiesen sind.
Rudakova: Das ist sicher so. Auf der anderen Seite zwingt die deutsche Bürokratie die Menschen zu handeln, egal, ob es ihnen gefällt oder nicht. Sie müssen für die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse kämpfen.
Zunächst einmal gab es im Frühling und Sommer für die Geflüchteten viel zu tun: Registrierung, Geld, Schule, Kita, Integrationskurs. Wie geht es diesen Menschen jetzt?
Lysenko: Die Gefahr ist groß, dass jene, die das alles geschafft haben, in ein Loch fallen. Man muss sich bewusst machen, dass sich ja viele von ihnen in der Ukraine ein gutes Leben aufgebaut hatten.
Was brauchen diese Menschen jetzt?
Rudakova: Sie brauchen Beschäftigung, einen Sprachkurs oder einen Job – und sei es für den Anfang auch nur ein Minijob. Darum wäre es auch so schön, wenn es in Deutschland einfacher wäre, sich seine Qualifikationen anerkennen zu lassen.
Julia Rudakova, Psychologin
Wie viel Zeit haben Sie durchschnittlich für die Beratung dieser Personen?
Rudakova: Drei bis fünf Sitzungen. Wenn notwendig, kann es auch etwas mehr werden.
Und das reicht bei einem Trauma?
Lysenko: Vieles hängt nicht davon ab, wie schwer ein Trauma ist, sondern auch von der frühzeitigen Intervention. Wenn ein Mensch sehr früh seine Probleme thematisiert, dann bleiben ihm oft viele Folgen des Traumas erspart. Das gilt auch für die schwersten Fälle, die ich bislang hatte, Menschen, die Familienangehörige haben, welche an der Front gestorben oder gefangen genommen oder vermisst sind oder Menschen, die all ihren Besitz verloren haben, Menschen die aus dem Donbass oder aus Mariupol kommen.
Sie sind ebenfalls vorm Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflohen. Ist das hilfreich bei der Beratung?
Lysenko: Ich habe, indem ich ebenfalls vor dem Krieg geflohen bin, Verständnis für die Menschen und das, was ihnen passiert ist. Ich kenne die schlimmsten Momente, die Unsicherheit, die man empfindet, wenn man den Fliegeralarm hört und nach seinem Rucksack greift. Ich weiß, wie es sich anfühlt, das noch einmal zu durchleben und zu verdauen – und ich lerne, das nicht jedes Mal auch tun zu müssen, wenn ich jemanden dabei begleite. Wir bekommen dafür Supervision.
Es ist Winter, es ist Weihnachten. Wie kommen die Menschen damit zurecht, mit denen Sie zu tun haben?
Lysenko: Die meisten Deutschen wissen nicht, wie wichtig Weihnachten auch in der Ukraine ist. Anders als in Deutschland bekommen die Kinder aber ihre Geschenke erst am 1. Januar. Und Heiligabend wird erst am 6. Januar gefeiert. Dann sitzt die ganze Familie um den Tisch, es wird viel gesungen. Manche legen Heu auf den Fußboden oder unter die Tischdecke, der Geruch soll an den Stall erinnern, in dem Jesus geboren wurde. Dazu gibt es zwölf spezielle Fastenspeisen.
, geboren 1986, studierte am East European Institute of Psychoanalysis in Kyjiw. Sie kam im März 2022 nach Deutschland.
Ist es nicht traurig, dass viele ukrainische Familien dieses Jahr nicht an einem Tisch sitzen können?
Lysenko: Ja, sicher. Andererseits sollten wir uns daran erinnern, dass niemand das Recht hat, uns dieses Fests zu berauben.
Was können deutsche Nachbar*innen tun?
Lysenko: Echtes Interesse zeigen! Und viel erzählen, denn wir sind auch sehr neugierig, wie die Deutschen leben.
Ipso ist eine gemeinnützige Organisation für psycho-soziale Beratung. Die intrakulturelle Arbeit schließt Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Syrien und die Ukraine ein. Durch Ipso werden aktuell zehn ukrainische Psycholog:innen weitergebildet und beschäftigt.
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