Berliner Onlineportal über Ukraine-Aufbau: Was aus den Ruinen entstehen kann

Sofia E. ist aus Russland nach Berlin geflohen. Nun hat sie „Pyl“ grgründet, das sich vor allem mit dem Wiederaufbau der Ukraine beschäftigt.

Ein Banksy-Kunstwerk an einem zerstörten Haus

Banksy was here: Zerstörung im Kiewer Stadtteil Borodyanka Foto: Andrew Kravchenko/ap

Ein neues Medium an den Start zu bringen in Zeiten wie diesen, noch dazu im Exil, erfordert Mut und Risikobereitschaft. ­Sofia E. hat beides, und sie hat noch mehr: Sie brennt für ihre Themen und hat einen unerschütterlichen Glauben an sich selbst. „Ich weiß, dass ich das stemmen kann“, sagt sie.

Die 30-jährige Russin, die auch einen israelischen Pass hat, lebt seit Mitte Juni mit ihrem Mann in Berlin. Sie ist eine von vielen Rus­s*in­nen, die ihr Heimatland im Zuge von Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine verlassen haben und versuchen, im Ausland beruflich Fuß zu fassen. Das Projekt, dem sich die junge Frau jetzt widmet, ist das russischsprachige Onlineportal Pyl (Staub). Seit August ist es online.

Eigentlich richtet sich das Portal an Menschen, die sich für Architektur sowie nachhaltige Stadtentwicklung interessieren. Doch der russische Angriffskrieg mitten in Europa hat das Themenspektrum etwas erweitert, etwa darum, wie Städte, von denen nach massiven Angriffen außer ein paar verkohlten Ruinen nichts übrig geblieben ist, wiederaufgebaut werden können.

Sofia E. verbringt ihre Jugend in der südrussischen Stadt Samara. Mit 16 beginnt sie in der Zeitung ihrer Schule erste journalistische Erfahrungen zu sammeln, wird mit der Goldenen Feder, dem renommierten russischen Preis für journalistischen Nachwuchs, ausgezeichnet und stellt eine Journalistenakademie für Kinder auf die Beine. Zum Thema Urbanistik kommt sie während des Besuchs einer litauischen Sommerschule in Vilnius. Nach ihrem Studium landet Sofia E. schließlich am Moskauer Strelka-Institut für Medien, Architektur und Design, das sechsmonatige Postgraduiertenprogramme für Urbanistik und Stadtentwicklung sowie thematisch ähnlich ausgerichtete Sommerschulen für ein breit interessiertes Publikum durchführt. Bei dem Institut hat Sofia E. bald ihren eigenen Blog. Dieser geht in der Folgezeit nahtlos in das bi­lingua­le Onlinemagazin Strelka Mag (in englischer und russischer Sprache) über, das außer Sofia E. noch rund 20 weitere Mit­ar­bei­te­r*in­nen mit Inhalten versorgen. 2021 verzeichnet das Magazin 450.000 Besuche im Monat und erwirtschaftet 70 Prozent der Finanzen in Eigenregie.

Es läuft gut – bis der Krieg kommt

Es läuft gut für Sofia E. Dann kommt der Februar 2022. Als Russlands Präsident Putin am 21. Februar die beiden Volksrepubliken Luhansk (LNR) und Donezk (DNR) in der Ostukraine offiziell anerkennt, beschleichen Sofia E. bereits böse Vorahnungen. Drei Tage später beginnt der Krieg. „Wir waren starr vor Schreck, uns fehlten die Worte. Dann dachten wir, das alles ist in drei bis vier Tagen vorbei und wir warten erst einmal ab“, sagt sie der taz.

Ein Irrtum. Am 28. Februar stoppt das Strelka-Institut bis auf Weiteres alle Aktivitäten, auch für das Strelka Mag stellt sich die Existenzfrage – vor allem, weil für Medien noch strengere Zensurvorschriften in Kraft treten. „Wir haben uns gefragt: Wie weitermachen, wenn ein Krieg nicht Krieg heißen darf? Und über die Weiterentwicklung von Städten zu schreiben, wenn Russland seinen Nachbarn bombardiert, das kam mir unangemessen vor“, sagt Sofia E.

Am 4. März verlässt sie Russland – zuerst in Richtung Israel, das Strelka Mag wickelt sie sechs Tage später von dort aus ab. Anfang April reift bei ihr der Gedanke, ein neues Projekt außerhalb von Russland in Angriff zu nehmen. Sie hat so etwas noch nie gemacht, geschweige denn Mittel, um ihre Idee umzusetzen. Aber sie hat ihr Team: sechs Menschen, von denen einige zu diesem Zeitpunkt noch in Russland, andere bereits im Exil sind. Sofia E. holt sich juristischen Rat, schließlich geht es um die persönliche Sicherheit ihrer Mit­strei­ter*in­nen. Aber obwohl das Terrain gefährlich ist, wollen alle mitmachen.

Wieder ins Gespräch kommen

Sei nunmehr fast vier Monaten ist Pyl online. Aber der Anfang ist beschwerlich für das siebenköpfige Kernteam, dem derzeit auch noch drei bis vier freie Mit­ar­bei­te­r*in­nen Material zuliefern. Für 2022 hat Pyl insgesamt 50.000 Euro Starthilfe erhalten. Geldgeber ist der JX Fund, den die Rudolf Augstein Stiftung, Reporter ohne Grenzen und die Schöpflin Stiftung gegründet haben. Der euro­päische Fonds unterstützt ­Medienschaffende, die aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind, damit sie ihre ­Arbeit im Exil fortsetzen und die dort notwendigen Redak­tionsstrukturen aufbauen können.

Derzeit steht die Berichterstattung von Pyl ganz im Zeichen des Ukrainekriegs und seiner Folgen. Jedoch seien die Zerstörung und der Wiederaufbau von Städten auch über die Ukraine hinaus interessant, sagt sie. Als ein Beispiel führt sie Berlin und das Umland an. Da würden ja auch jetzt noch Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Insgesamt sollen sich die Inhalte jedoch nicht nur an Architekt*innen, Jour­na­list*in­nen und andere Spe­zia­list*in­nen richten, sondern man wolle ein größeres Publikum erreichen. „Dazu gehören alle russischsprachigen Menschen, die in andere Länder gegangen sind, um sich dort ein neues Leben aufzubauen“, sagt Sofia E.

Um Reichweite zu generieren, werden alle möglichen Kanäle in den sozialen Medien genutzt. Doch die Zahlen sind bislang überschaubar: 653 Abon­nent*in­nen auf Instagram, 530 auf Telegram, 250 auf Tiktok. Viel ist das nicht, aber einzelne Videos erreichen mitunter auch mal 62.000 Accounts. Wie bei einem Video, worin die Geschichte einer Notunterkunft für Russen in Kasachstan erzählt wird. Sie waren vor der Mobilisierung in Russland geflohen.

Ein besonderes Anliegen ist es für sie, mit den Ukrai­ner*in­nen ins Gespräch zu kommen. „Der Krieg ist auch eine menschliche Katastrophe. Es muss geschrieben werden, was ist“, sagt sie. Momentan ist Sofia E. auf der Suche nach Protago­nis­t*in­nen und Au­to­r*in­nen: Menschen, die unter russischer Besatzung gelebt haben, oder Aktivist*innen, die beim Wiederaufbau helfen. Die Kommunikation gestaltet sich schwierig. Bislang hat sich erst eine ukrainische Journalistin bereit erklärt, für Pyl einen Kommentar zu schreiben.

„Ich warte auf den Moment, dass wir wieder miteinander reden können. Dieser Krieg hat viele Gesichter. Wir werden Jahrzehnte brauchen, um zu reflektieren, was passiert ist“, sagt sie. Trotz aller Schwierigkeiten ist Sofia E. zuversichtlich, die Unterstützung wachse – langsam, aber stetig, sagt sie. Eine gute Portion Optimismus wird sie auch brauchen. Rund 200.000 Euro benötigt das Redaktionsteam, um im kommenden Jahr einigermaßen über die Runden zu kommen.

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