Der „Kirschgarten“ und die Welt außenrum: Abzweigung verpasst
Für manche gibt es nichts Wichtigeres als Klimaschutz, für andere ist er ein Luxusproblem: Ein Abend im Hamburger Bahnhofsviertel samt Theaterbesuch.
Im Foyer des Hamburger Schauspielhauses stehen die Premierengäste an der Garderobe an. Die Frau hinter mir in der Schlange sagt: „Kalt ist es hier. Und nur eine Frau an der Garderobe für all die Leute. Die sparen hier, wo sie können. Und alles auf Kosten des Staates.“ „Bürger“, denke ich mir. „Bürger“ wollte sie sagen. „Die sparen auf Kosten der Bürger.“
Aber man kann das schon mal durcheinander bringen, wer auf wessen Kosten spart. Oder lebt. Es wird die Frage eines ungemütlichen Abends werden, auch wenn im Zuschauerraum geheizt ist, im Gegensatz zum Foyer.
Das Stück heißt „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow und auf der Bühne zu sehen sind zwei Glaskästen: Links im Glaskasten sind die Schauspieler*innen, die kaum spielen, sondern vor allem in Mikrofone sprechen. Rechts sind die Musiker*innen mit zweimal Geige, einmal Bratsche und einmal Cello, die in den kommenden 90 Minuten durchgängig spielen werden.
Wie Superman durch Hollywood-Filme flog
Über den Glaskästen ist eine Leinwand und unter der Leinwand steht ein Greenscreen mit Kameras davor. Von Zeit zu Zeit werden die Schauspieler*innen den Glaskasten verlassen, vor den Bluescreen treten und per Kamera in die Bilder auf der Leinwand eingefügt. Es ist das Verfahren, mit dem Superman in den 80er-Jahren durch Hollywood-Filme flog.
Das Stück spielt also auf der Leinwand, auf der der Kirschgarten zu sehen ist, der dem Stück den Namen gibt, aber bei Tschechow nur als Symbol dient. Tschechows Stück erzählt die Geschichte der Adelsfamilie Ranjewskaja, die auf ihrem Gut zusammen kommt, weil kein Geld mehr da ist und in Frage steht, ob ein Verkauf des Kirschgartens eine Lösung sein kann. Während die Familie debattiert, ist der Kirschgarten ab und zu durchs Fenster zu sehen – anfangs blüht er, am Ende wird er abgeholzt.
Regisseurin Katie Mitchell macht den Kirschgarten in ihrer Inszenierung zur Hauptfigur, so, wie bei Hitchcocks „Vögel“ die Vögel die Hauptrolle spielen. Auf der Leinwand ist die Entwicklung des Kirschgartens über ein Jahr hinweg zu sehen und das Drama der Menschen dringt nur gelegentlich als oft dumpfes Stimmengewirr aus dem Gutshaus.
Das Stück wird aus der Perspektive des Kirschgartens erzählt. Wenn Menschen in ihm auftauchen, dann als live projizierte Bluescreen-Wesen. Die Menschen sind nur noch technisch vermittelte Fremdkörper in einer todgeweihten Natur. Und unter allem liegt ein schräg-bedrohlicher Streicher*innenteppich, der live aus dem rechten Glaskasten dringt.
Mitchells „Kirschgarten“ ist eine Performance, die sich zusammensetzt aus Film, Hörspiel, Installation und Klangcollage. Eine gute Stunde hören und sehen die Zuschauer*innen, wie der Kirschgarten langsam zugrunde geht und gleichzeitig an Bedrohlichkeit gewinnt.
Und dann passiert etwas Überraschendes: Als die Arbeiter mit Kettensägen kommen, um den Kirschgarten abzuholzen, hält die Geschichte inne und alles vorangegangene wird rückwärts nochmals dargestellt – in erhöhter Geschwindigkeit, also so, wie es auf dem Fernseher aussieht, wenn man die Rewind-Taste gedrückt hält.
Das Stück läuft zurück aufs erste Bild, und das bestand aus einer Projektion des Textes: „Wenn wir weiter die Natur misshandeln, wird sie kollabieren, und wir mit ihr.“ Die Menschen hätten die Ausfahrt rechtzeitig kriegen müssen, das ist die klare Botschaft der Aufführung.
Das ist wahrlich kein neuer Gedanke, aber ihn ästhetisch eindringlich zu vermitteln, ist an diesem Abend absolut gelungen. Dafür ist von dem Klassiker, der 1904 uraufgeführt wurde, nicht viel übriggeblieben. Die Zuschauer*innen hinterlässt das gespalten. Viele applaudieren nicht, andere dafür umso heftiger. Und man fragt sich, wem der Beifall gilt: Dem Appell, endlich zu handeln? Oder der Inszenierung?
„Der Kirschgarten“, Schauspielhaus Hamburg, nächste Aufführungen am 5. & 29.1., jeweils 20 Uhr
Draußen im Bahnhofsviertel läuft die Zeit dann wieder linear. Eine Frau fragt nach Kleingeld, sie hat nur noch einen Zahn. Zwischen den Gemüseläden und den überquellenden Mülleimern sind die Prostituierten auf der Suche nach Freiern. Manche von ihnen nervös. „Hast Du kurz Zeit?“ fragt eine, die aussieht, als bräuchte sie wirklich dringend Geld – jetzt, und nicht später.
Auch die Obdachlosen im Bahnhofsviertel sind mehr geworden, scheint es, sie sitzen um den Eingang zur U-Bahn herum in Schlafsäcken und haben neben die Pappbecher für das Geld Kerzen gestellt. Der Kirschgarten ist hier weit weg. Und, so krass es klingt, ein Luxusproblem.
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