Pinocchio-Animationsfilm im Kino: Der „Duce“ mag Holzpuppen

Regisseur Guillermo del Toro siedelt seinen „Pinocchio“ im Faschismus an. Der Gewalt der Kinderbuchvorlage steht seine Fassung in nichts nach.

Pinocchio in mitten zweier weiterer Holzmarionetten

Und tanzen kann er auch noch: Pinocchio als Marionette mit Leidensgenossen Foto: Netflix

Was macht einen Stoff zeitlos? Eine seiner Qualitäten kann sich darin zeigen, dass einem die Geschichte zwar einigermaßen präsent ist, man ihre Entstehungszeit aber nicht allzu deutlich vor Augen hat. Wenn man sich etwa Guiller­mo del Toros Animationsfilm „Pinocchio“ anschaut, mag die Frage aufkommen, ob das italienische Kinderbuch, auf dem er beruht, womöglich aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammt. Da war sein Autor Carlo Collodi jedoch schon eine Weile tot, die Romanfassung von „Pinocchios Abenteuer“ erschien 1883.

Bei Guillermo del Toro hingegen spielt die Handlung nach dem Ersten Weltkrieg. Überhaupt greift seine Geschichte viele Details der Vorlage auf, um sie dann in ihre eigene Ordnung zu bringen. Den zeitlichen Rahmen steckt del Toro anfangs in einer Rückblende ab. Man erfährt vom Erzähler, der Grille, die im Buch lediglich eine der Figuren ist, dass der Holzschnitzer Gepetto, der Schöpfer Pinocchios, bei einem Bomberangriff im Krieg seinen Sohn verloren hat und in seiner Trauer beschließt, diesen aus Holz nachzuschaffen.

Das Holzscheit, aus dem später Pinocchio wird, kann im Film, anders als im Buch, nicht schon vor seiner Bearbeitung sprechen. Vielmehr wird die fast fertig geschnitzte Puppe des nachts von einer mitleidigen Fee zum Leben erweckt. Am nächsten Morgen zeigt sich sogleich die diabolische Dimension dieses „Frankenstein’schen“ Vorhabens, tote Materie zum Leben zu erwecken. Denn Pinocchio fängt an, in unschuldiger Begeisterung die Haushaltsgegenstände in ihrem Gebrauch zu entdecken und dabei mit dem Hammer jede Menge Glasbehälter zu zerdeppern.

Unlackiert und unbekleidet

Unfertig sieht diese Puppe aus, unlackiert und unbekleidet, die Haare wie aus der Maserung herausgewachsen. Zugleich ist dieser Pinocchio wunderbar animiert, durch Stop-Motion-Technik in angemessen mechanische Klapperbewegung gesetzt. Die für ihre Innovationen im Puppenspiel gefeierte Jim-Henson-Company ist als Produzent beteiligt.

Guillermo del Toros Pinocchio“. Regie: Guillermo del Toro. USA/Mexiko/Frankreich 2022, 114 Min. Läuft im Kino und auf Netflix

Und anders als in Matteo Garrones „Pinocchio“ von vor drei Jahren, in dem Schauspieler wie Roberto Benigni in Fleisch und Blut an der Seite des computeranimierten Titelhelden spielten, um den Unterschied zwischen Mensch und Puppe zu markieren, sind bei del Toro sämtliche Figuren leicht mechanisch-steife „Puppen“.

Ganz nach dem Stil del Toros ist dieser „Pinocchio“ in düsteren Farben gehalten und bietet dem Unheimlichen einigen Raum. Was nicht allein der Neigung des Regisseurs geschuldet ist, vielmehr hebt dieser die harten und brutalen Facetten von Collodis Buch hervor, das an Grausamkeit den Märchen der Gebrüder Grimm in nichts nachsteht.

Argloser Hampelmann

Während Collodis Pinocchio ein ebenso argloser wie durch Mangel an Disziplin leicht vom Weg abzubringender „Hampelmann“ ist, zeichnet del Toro die Figur komplexer und findet einen historischen Ort für die gezeigte Gewalt. Dieser Pinocchio ist im aufkommenden Faschismus einerseits ein anarchischer Unruhestifter, andererseits fallen seine Vorzüge für den Krieg schon bald dem Podestà, dem Ortsvorsteher, auf. Pinocchio hat sich nämlich als unsterblich erwiesen, was ihn in Podestàs Augen zum perfekten Soldaten macht.

Für die „Unsterblichkeit“ Pinocchios hat sich del Toro eine wunderbar makabre Szene ausgedacht, in der die bei einem Unfall verunglückte Holzfigur im Jenseits auf die Fee Sprezzatura trifft, die ihm eröffnet, dass er nach kurzer Zeit unter die Lebenden zurückkehren wird, und das immer wieder. Diese überirdische Macht erscheint Pino­cchio als blau schimmerndes Lichtwesen in einem finsteren Saal voller Sanduhren, sanft gebieterisch gesprochen von Cate Blanchett.

Seinen politischen Hintergrund deutet der Film dezent an. So weicht auf einer Hausmauer in Gepettos Dorf eine Wandmalerei zum Erntedankfest unauffällig dem Konterfei des „Duce“ und dessen Losung „Credere, obbedire, combattere“ – „Glauben, gehorchen, kämpfen“.

Pinocchio beim Militär

Bald danach gehen die leisen Töne verloren und die Erzählung landet im Zweiten Weltkrieg. Bomben fallen, Pinocchio wird eingezogen, überlebt einen Angriff auf seine Kaserne. Als Nächstes soll er für den Puppenspieler Graf Volpe in dessen Truppe als Hauptattraktion auftreten, vor Mussolini, der Puppen mag.

Pinocchios Darbietung stellt sich nicht als die von Volpe erhoffte Feier des Diktators heraus, sondern als deftiger Spott in Form einer von Pinocchio gesungenen Varieté-Nummer: Ein Teil des Films ist als Musical konzipiert, der Komponist Alexandre Desplat ist bemüht, an klassische Vorbilder des Genres anzuknüpfen. Trotz eingängiger Melodien bleibt wenig davon hängen.

An die großen optischen Vorzüge des Films reicht die Musik nicht heran. Was nichts daran ändert, dass del Toro der Vorlage mit seiner freien ­Adaption in vieler Hinsicht gerechter wird als manch andere Verfilmung.

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