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Argentiniens Vorfreude auf die Katar-WM„Endlich wieder Weltmeister“

In Argentinien freuen sich die Menschen auf die WM in Katar. Dem eigenen Team werden große Chancen zugerechnet. Ein Boykott? Kein Thema.

Die WM in Katar ist die letzte Chance von Messi, doch noch Weltmeister zu werden Foto: Hassan Ammar/ap

BUENOS AIRES taz | „Messis Trikot mit der 10 geht am besten“, sagt Guillermo Gago und zeigt auf das breite Angebot im Schaufenster seines Geschäfts für Haustierbedarf. Trikots, Mützen, Schals – in allen Größen und alles in Hellblau-Weiß, den Farben der argentinischen Fahne und der Nationalmannschaft. Dazu den WM-Pokal zum Apportieren. „Halstücher gehen vor allem bei Katzen gut, bei Hunden sind es Trikots“, sagt der 69-Jährige. Er kümmere sich gern um Haustiere und sei eben auch Fußballfan.

Seit über 20 Jahren führt er seinen Laden im Stadtteil Villa Urquiza von Buenos Aires. „Mein Angebot ist schon etwas exklusiv in der Stadt und die Kunden wissen das“, sagt er und hofft auf einen neuen Verkaufsrekord. Nicht nur, weil eine WM erstmals im argentinischen Sommer stattfindet und sich mit dem Weihnachtsgeschäft verbindet. Die Erwartungen an die Mannschaft sind groß und die Vorfreude auf die Spiele riesig. „Fußballweltmeisterschaften sind für uns unvergessliche Ereignisse“, sagt er.

„Die Leute identifizieren sich viel mehr mit der Mannschaft als noch vor vier Jahren in Russland“, erklärt Víctor Pochat, Programmdirektor beim Sportsender ESPN & FOX Sports Südamerika. Damals habe es keine so starke emotionale Bindung zwischen Team und Fans gegeben. Jetzt ist die Mannschaft seit 36 Spielen ungeschlagen, hat 2021 endlich wieder die Copa América gewonnen, und das auch noch im Finale gegen den ewigen Rivalen Brasilien. Und als Sahnehäubchen Europameister Italien beim interkontinentalen Vergleich im Finalissima geschlagen. Balsam für Argentiniens geschundene Fußballseele, die in den 28 Jahren zuvor in 7 Finals stetig Niederlagen zu verarbeiten hatte.

Dass die Mannschaft nicht mehr den Spitznamen „Albiceleste“ trägt, sondern „La Scaloneta“, ist dem Trainer geschuldet. Nach einem wieder einmal gewonnenen Spiel erschien im Internet ein Meme, das Lionel Scaloni am Steuer eines Busses mit der Aufschrift „La Scaloneta“ zeigt. Nach dem WM-Aus in Russland hatte der damals 40-jährige Lionel Scaloni den Cheftrainerposten übernommen. Eine Fehlbesetzung, so der Tenor der meisten Kritiken, seine Entlassung sei nur eine Frage der Zeit.

Viele junge Unbekannte

Scaloni setzte auf junge Spieler, deren Namen selbst in Argentinien nur wenigen geläufig waren. Das Paradebeispiel ist Dibu Mártinez. In Europa von einem Klub zum anderen tingelnd, stand er im Juni 2021 erstmals im Tor der Nationalmannschaft und ist seither die unumstrittene Nummer eins. Mit einem Mix aus Jungen und Routiniers formte Scaloni eine Mannschaft mit klaren Hierarchien, aber ohne Klüngel.

Dennoch richten sich auch die argentinischen Argusaugen auf Lionel Messi, für alle unbestritten der beste Fußballer der Welt. Aber am Río de la Plata geht die Sorge um, Messi könnte ein Unvollendeter bleiben, sollte es für den 35-Jährigen die letzte WM ohne Pokal werden. Ein wirklich Großer muss mindestens einmal den WM-Pokal in den Himmel gehoben haben. Wie Die­go Maradona 1986, als Argentinien zum zweiten Mal Weltmeister wurde.

Boykott kein Thema

Ein WM-Boykott ist in Argentinien kein Thema. „Wo die WM stattfindet, ist allenfalls zweitrangig. Wichtig ist, dass sie stattfindet und Argentinien nach 36 Jahren endlich wieder Weltmeister wird“, erklärt Víctor Pochat. Über Katar sei wenig Kritisches berichtet worden. Wie jeder WM-Ausrichter habe auch Katar alles Negative verschleiert und sich als dynamisches und reiches Land präsentiert. „Dafür wurden eigens argentinische Journalisten nach Katar eingeladen, die über die Einrichtungen und Vorzüge des arabischen Land berichteten“, erzählt der Programmdirektor.

Kein Thermometer misst Argenti­niens WM-Fieber besser als die Nachfrage nach den Figuritas, den Fußball-Sammelbildchen von Panini. In Ernesto Acuñas kleinem Kiosk herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. „Hay Figuritas? – Gibt es Figuritas?“, lautet stets die Frage. „Am Nachmittag kommt eine Lieferung“, antwortet der Kiosk­be­sit­zer. Gesichtsausdrücke der Fragenden spiegeln Enttäuschung oder Verzweiflung wider, aber auch Erleichterung: „Puh, dann bis nachher.“ Wie hoch die Temperatur ist, zeigt die Tauschbörse am Wochenende.

Andrang auf Sticker

Hunderte Kinder und Erwachsene drängeln sich auf dem Gehweg vor Acuñas Kiosk. Spielernamen und Stickernummern schwirren umher. Manche haben einem dicken Stapel mit Doppelten, andere fragen gezielt nach den letzten Fehlenden in ihren Alben. Es wird auf Handydisplays gesucht, oder es werden auf handgeschriebenen Zetteln die Nummern abgeglichen. „Late“ und „Nolate“ sind die Codewörter, Kurzformen für: „La tengo“ und „No la tengo“ – „Habe ich“ und „Habe ich nicht“. Am Wochenende grassiert das Figu-Fieber an vielen Orten in Argentinien.

Wir pflegen Leidenschaften, und Figuritas-Sammeln ist eine davon“, sagt Acuña. Nach den Rauchwaren sind die Sammelbildchen das wichtigste Verkaufsprodukt der Kioske, weiß der Vizepräsident der Vereinigung der Kiosk­be­trei­ber in Argentinien. Zwar verkaufe auch er das ganze Jahr über die verschiedenen Sticker, aber die WM-­Bildchen gehen immer durch die Decke. „Wenn die Leute anfangen Schlange zu stehen, zählen wir sie durch: 1.500 Päckchen durch 300 Personen macht 5 für jeden.“

Protestmarsch für den Kiosk

Und während in den Kiosken immer mehr Ausverkauft-Schilder hingen, tauchten die Päckchen mit den Stickers über dubiose Kanäle bei informellen Händlern auf. Statt des empfohlenen Verkaufspreises von 150 Peso wurden bis zu 500 Peso verlangt und gezahlt. Als dann auch noch Supermärkte und Tankstellenshops mit dem Verkauf begannen, organisierte er mit den Kiosk­be­sitzern einen Protestmarsch zu Panini. Erst nachdem die Regierung sich einschaltete, kam es zu einer Einigung. Jetzt sind die Kioske auch am Vertrieb beteiligt. „Wir bekommen mindestens 5 Prozent der Produktion. Das ist wenig und reicht nicht, aber immerhin garantiert“, sagt Acuña, der den Protestmarsch mitorganisiert hatte.

Vielleicht sei Argentinien das Land, deren Bevölkerung am meisten Geld für die WM ausgibt, meint Ernesto Acuña. Zumindest der Teil, der es sich nicht leisten könne, gut die Hälfte der Bevölkerung, sei ausgeschlossen. Ein Grund ist die hohe Inflation. Vor vier Jahren kosteten die Panini-Päckchen noch 15 Peso, jetzt sind es mindestens 180 Peso. Und während 2018 das offizielle WM-Trikot für 1.650 Peso zu haben war, müssen nun 17.000 Peso dafür gezahlt werden.

„Das Land steht still“

Wenn am 22. November Argenti­niens Auftaktpartie angepfiffen wird, ist es in Buenos Aires sieben Uhr morgens. Offen ist, ob sich die Kindergärten oder Schulen zu den üblichen Anfangszeiten füllen werden. Die Debatte darüber ist noch im Gang. Es wird Schulen geben, die später mit den Unterricht beginnen oder das Spiel in Verbindung mit einer pädagogischen Komponente zeigen. „Wenn Argentinien spielt, steht das Land still“, sagt Guillermo Gago. Seinen Laden hat er dann wie alle anderen geschlossen. Schon aus Sicherheitsgründen.

„Ein offenes Geschäft ist eine Einladung zum Überfall“, so Gago. Niemand sei unterwegs, auch keine Polizei auf der Straße. „Alle schauen irgendwo das Spiel.“ Offen ist auch, ob und wo es Public Viewing geben wird. Ein Pay-TV-Sender bietet alle 64 Spiele, ein Kabelkanal zeigt 32 Spiele, ebenso viele, wie das staatliche TV Publica über Kabel und Antenne ausstrahlt.

Die so­zia­len Basisorganisationen haben angekündigt, auch während der WM nicht auf Demonstrationen zu verzichten, obgleich sie einräumen, dass die allgemeine Euphorie ihre Proteste überschatten werden. Sollte Argentinien wider allen Erwartungen jedoch frühzeitig ausscheiden, könnte die Stimmung auch kippen. Seit den sozialen Unruhen im Dezember 2001 herrscht vor jedem Jahresende eine angespannte Stimmung.

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