Multiple Krisen: Der Sorgenpool ist voll!

Raketen, Handy-Blackout, Zugausfall, Klimakatastrophe und dann auch noch eine gruselige Nachricht auf dem AB. Es reicht jetzt mal mit den Krisen.

Eine Straße, eine Haltestelle und eine Tram auf dunkler Straße

Während eines Blackouts in Kiew Foto: Andrew Kravchenko/ap

Etwas belächelt habe ich sie, muss ich zugeben. Die junge Frau, die im Zug neben mir mit schreckgeweiteten Augen den Thriller „Black Out“ las. Jedes Mal, wenn irgendwo ein Handy bimmelte, schreckte sie hoch wie vom, nun ja, Russen gehackt. In dem Bestseller geht es darum, dass Hacker die Stromversorgung lahmlegen. Während Chaos und Panik um sich greifen, führen Spuren nach Russland und China. Laut Internet hat das Buch in Deutschland besonders viele Le­se­r:in­nen­.

Kein Wunder, hatte ich noch am Vorabend auf einer Party gewitzelt: Wir Deutschen sind so gern Weltmeister, nicht nur im Rechthaben, sondern neuerdings auch im Angsthaben und Sorgenmachen. Besonders die Älteren, die sich Vorräte im Keller anlegen – oder die Jüngeren, die sich überall in die Landschaft kleben, um ihre Mitmenschen vom Planetenzerstören abzuhalten.

Aber wir, die Jahrgänge, die wir gut Ü 35 und noch weit U 60 sind? Wir hüpften angestaute Sorgen auf der Tanzfläche eines angemieteten Freizeitheims weg (es war ein fünfzigster Geburtstag), schrien uns über die Musik hinweg ins Ohr, wie wohltuend für den Seelenhaushalt es sei, alle sozialen Netzwerke zu verlassen, und grölten mit Bad Religion: „Sanity is a full time job / in a world that’s always changing.“

Fulltime-Job – allerdings. Es war diese Woche wirklich nicht leicht, den Kopf beieinander zu halten: Erst waren da die widersprüchlichen Signale vom G20-Gipfel auf Bali: Während es als toller Erfolg gewertet wurde, dass „die meisten Staaten“ sich dazu durchringen konnten, Russlands Angriff auf die Ukraine zu verurteilen, ließ sich Putins Gesandter Lawrow in kurzen Hosen und einem lavendelfarbenen Basquiat-Shirt filmen, die Apple Watch lässig am Handgelenk.

Es macht „knack“ in der Festnetzleitung

Was soll man davon halten, dass der russische Außenminister einem Schwarzen heroinsüchtigen US-Künstler huldigt? Steht Lawrow schon auf der Abschussliste des Regimes – oder bereitete er quasi optisch einen Brückenschlag zum Westen …? In diese müßigen popkulturellen Überlegungen schlugen zwei Raketen „russischer Bauart“ auf polnischem Gebiet ein und töteten zwei Menschen.

Der Deutschlandfunk schaltete morgens eine Psychologin zu, die erklärte, dass jeder Mensch nur über einen begrenzten „Sorgenpool“ verfüge – man solle sich bitte nicht überlasten. Toll, soll ich jetzt eine Auswahl treffen, worüber ich mich sorge? Um einen möglichen Nato-Bündnisfall nach Artikel fünf? Um die Menschen, die in Kiew oder Charkiw im Dunkeln sitzen und frieren, wenn sie nicht gerade von Raketen beschossen werden?

Um unsere polnischen Nachbarn, die jetzt wahrscheinlich durchdrehen vor Angst – laut einem Bericht boomt das Geschäft mit privaten Bunkern besonders in Polen. Oder soll ich mir eher Sorgen darum machen, dass wir auf eine 2,5-Grad-Erderwärmung zusteuern, die Teile der Welt noch zu meinen Lebzeiten unbewohnbar machen werden – schöne Willkommensgrüße an den achtmilliardsten Menschen, der diese Woche geboren wurde. Was tun, wenn der Sorgenpool überzulaufen droht? Tief durchatmen und eine Freundin anrufen. Funktioniert kurz, dann macht es „knack“. Leitung tot.

Believe in Sanity

Nach einem Neustart spielt der Festnetz-Anrufbeantworter eine unabgehörte Nachricht ab: SMS einer mir unbekannten Mobilfunknummer. Inhalt der vom Computer vorgelesenen Nachricht: „Du Arschloch“. Wer war das? So viele kennen unsere Festnetznummer gar nicht. Jetzt graust es mir wirklich ein bisschen. Griff zum Handy, doch auch das ist tot. Mobilfunkausfall überall in Deutschland informiert das Radio. Und der Service der Deutschen Bahn teilt mir mit, dass eine meiner anstehenden Reisen wegen einer Streckensperrung ausfallen muss.

Züge fahren nicht, Leitungen sind tot, dazu unfreundliche Botschaften auf dem AB. Herrschaften, mein Pool ist voll für diese Woche! Zur Aufheiterung konsultiere ich noch mal die Playlist vom vergangenen Wochenende: „Sanity“, singen Bad Religion weiter, „will make you strong if you believe in sanity.“

Ähm, wo ist eigentlich der Kellerschlüssel?

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Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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