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Elinor Cleghorn über Gendermedizin„Der weibliche Körper als Instrument“

Die Autorin Elinor Cleghorn schreibt über die Geschichte der Gendermedizin. Sie zeigt, wie alte Stereotype noch heute zu Fehldiagnosen führen können.

„Hysterie“-Therapie für Frauen anno 1910: Samuel H. Monell's „hochfrequente elektrische Ströme“ Foto: Mauritius Images
Nicole Opitz
Interview von Nicole Opitz

taz: Frau Elinor Cleghorn, Sie beginnen Ihr Buch mit einem Zitat: „Er glaubt mir nicht, dass ich krank bin. Was soll ich tun?“ von Charlotte Perkins Gilman. Wie würden Sie darauf reagieren?

Elinor Cleghorn: Das ist ein Zitat aus „Die gelbe Tapete“ von Gilman. Es handelt von einer Frau, die an einer postnatalen Depression leidet. Ihr Mann, ein Arzt, findet, dass sie nichts falsch macht, aber eine leichte hysterische Neigung hat. Er verurteilt sie dazu, ohne Stift, Pinsel oder Nadeln in ihrem Schlafzimmer eingesperrt zu sein, um sich auszuruhen.

Lara Downie
Im Interview: Elinor Cleghorn

wurde zehn Jahre lang fehldiagnostiziert – bis Ärz­t:in­nen feststellen, dass sie Lupus hat. Im August 2022 erschien ihr Buch „Die kranke Frau“. Kiwi-Verlag, 25 Euro.

Ihr Schmerz wurde heruntergespielt.

Die postnatale Depression wurde nicht als Krankheit anerkannt. Stattdessen wurde sie als eine Art Hysterie infantilisiert. Diese Geschichte war teils Horrorgeschichte, teils Satire auf die Medizin zur Zeit, in der es hysterische Anschuldigungen gegen Frauen gab. Sie waren in Pflegeregimen sehr verbreitet.

Das Erbe davon kennen wir bis heute: Kranken Frauen wird nicht geglaubt. Was raten Sie diesen Frauen?

Was ich sagen würde: Sie sind die beste Erzählerin dessen, was passiert. Auch wenn die Leute, die sich eigentlich um Sie kümmern sollen, Ihnen nicht glauben. Es ist schwer, das zu verstehen. Wenn ich schon oft beim Arzt war, weil ich chronische Schmerzen habe, und mir gesagt wurde: „Es ist wirklich nichts falsch, Sie sind wahrscheinlich nur ängstlich.“ Doch es ist dein Körper, dein Verstand. Nur du weißt, wie es sich wirklich anfühlt.

In Medien und Gesellschaft wird viel über Gendermedizin diskutiert – zum Beispiel über Endometriose. Warum haben Sie sich entschieden, dieses Buch zu schreiben, obwohl die Diskussionen schon da sind?

In der Medizin ist es oft die Einstellung gegenüber Menschen und die Art und Weise, wie kranke Menschen gesehen werden. Ich wusste zuvor nicht, wie viel Kontrolle die Medizin im Laufe der Geschichte über Menschen hatte.

Inwiefern?

Die Medizin betrachtete weibliche Körper nicht nur als menschliche Körper, sondern auch als eine Art soziales Instrument.

Sie beschreiben, dass ein großer Aspekt dieser Instrumentalisierung darin besteht, dass Frauen zu jedem Zeitpunkt der Geschichte oft geraten wird, schwanger zu werden – unabhängig davon, welche Krankheit sie haben.

Zu Ihrem Beispiel Endometriose: Als diese Krankheit ab den späten 1920er Jahren richtig untersucht und benannt wurde, riet man den Frauen, schwanger zu werden. Me­di­zi­ne­r:in­nen sagen oft so was wie: „Wir sind uns nicht ganz sicher. Es muss daran liegen, dass Frauen Karrieren wählen. Es muss daran liegen, dass Frauen in dem Moment, in dem sie 18 werden, keine Babys bekommen. Es muss daran liegen, dass Mädchen der Mittelschicht jetzt aufs College gehen können.“

In Ihrem Buch sagen Sie, dass trans-, inter- und nichtbinäre Menschen auch in der patriarchalen Medizin unterdrückt werden, aber Sie konzentrieren sich auf Frauen. Warum haben Sie sich dazu entschieden?

Die Medizin war schon immer eines der Machtsysteme, das auf der Binarität von sex und gender bestand. Und die Vorstellungen der Medizin über die Gesundheit und den Körper von Frauen sind heute untrennbar mit diesen sehr geschlechtsspezifischen Varianten verbunden.

Glauben Sie, dass Messungen wie der Gender Health Gap helfen können, um auf das Problem aufmerksam zu machen?

Wenn es nur diesen Unterschied der Geschlechterbinarität verstärkt, dann ist es nicht unbedingt nützlich.

Ein Beispiel, das Sie auch in Ihrem Buch ansprechen, ist die Diskussion um die Menstruationsblutung von Frauen nach der Covid-19-Impfung.

Frauen berichteten von Menstruationsstörungen nach der Impfung. Es gab eine Zurückhaltung, das anzuerkennen, weil angenommen wurde, dass Frauen sich nicht impfen lassen würden. Wir sehen immer wieder, dass Frauen Informationen über ihren Körper verweigert werden. Als seien sie nicht in der Lage, diese Informationen zu haben und für sich selbst gute Entscheidungen zu treffen. Das ist im Laufe der Geschichte immer wieder passiert. Niemand sollte nichts über seinen Körper wissen. Die Mehrheit der Frauen hätten diese Impfprobleme auch mit dem Wissen um die Menstruationsstörungen gehabt, aber es wäre gut gewesen, wenn es anerkannt worden wäre.

Ein anderes Beispiel aus Ihrem Buch: Der Arzt Jordan beschloss im 17. Jahrhundert, eine Frau namens Gloves nicht zur Hexe zu erklären, weil er glaubte, sie leide an …

… erstickender Gebärmutter.

Das ist so erstaunlich, weil es ein Irrglaube ist, der den anderen ersetzt.

Ja. (lacht)

Glauben Sie, man kann dieses Ersetzen von Fehlinformation bis heute zurückverfolgen?

Neues Faktenwissen basiert oft auf altem Wissen. Aber es ersetzt es nicht unbedingt. Hysterie entpuppte sich als eine Art plausible Erklärung für irgendeine Form von Hexerei, die auf so vielen Ebenen merkwürdig und auch ziemlich lustig ist. Weil wir wissen, dass es so etwas wie einen Kult nicht gibt. Diese Frauen haben keine Affären mit dem Teufel. Sie haben keinen Sex mit dem Teufel. Das kann nicht möglich sein. Aber offensichtlich passiert etwas mit ihnen.

Also gibt es heute nichts Vergleichbares mehr?

Es werden immer noch oft Fehlinformationen ersetzt. Ich denke, das wird so lange passieren, bis wir geschlechtsspezifische Vorurteile und stereotype Vorstellungen über den Körper von Frauen aus dem Verständnis von Krankheiten und Leiden herauslösen.

Haben Sie Ideen, was helfen könnte?

Letztes Jahr, als das Buch herauskam, war ein Arzt bei einem Plenum, er hatte diese brillante und radikale Idee, dass der Lehrplan unter Mitwirkung aller, die von der Medizin am meisten vernachlässigt wurden, neu geschrieben werden sollte. Sie schreiben ihn also mit Frauen, mit trans und nichtbinären Menschen, mit Menschen, die von der Medizin rassifiziert wurden. Sie bauen eine Medizin auf, die von den Menschen ausgeht. Eine Medizin, die sich zuerst um die Menschen selbst kümmert.

Sie sagen, es ist radikal – sollte es nicht grundlegend sein, sich auf die Menschen zu konzentrieren, auf die man sich nicht konzentriert hat?

Ja, es sollte nicht radikal sein, aber in Bezug zur bisherigen Norm ist es radikal. Kürzlich wurde bekannt, dass es in Großbritannien für Medizinstudenten obligatorisch wird, ein Modul zur Gesundheit von Frauen zu belegen. Wir alle haben gesagt: Was, es war vorher nicht obligatorisch? Das war optional?

Sie fordern eine antirassistische Medizin – schreiben davon, dass Schwarzen Frauen nochmal weniger geglaubt wird als weißen Frauen. Trotzdem widmen Sie ein ganzes Kapitel den Suffragetten, die sehr rassistisch waren. Wie passt das zusammen?

Weil wir sehen, wie die Medizin in das Leben der Frauen eindringt, den Fortschritt der Frauen. Ich sah mir Zeitungen an und die Wörter „Suffragetten“ und „Hysterie“ wurden oft zusammengefügt. Es war mir wichtig zu zeigen, dass wir uns den Fortschritt und die Debatten der Suffragetten ansehen können. Gleichzeitig können wir sie kritisieren.

Inwiefern?

Diese Arbeit wurde buchstäblich zum Wohle weißer Frauen geleistet. Das ist ähnlich wie bei der „Birth Control Bewegung“. Einige Akteurinnen, Marie Stopes in Großbritannien und Margaret Sanger in den USA, sind ähnlich problematisch, wenn es um Überzeugungen und Theorien zu race geht. Das bedeutet nicht, dass wir keine Verhütungsmittel verwenden sollten, aber es bedeutet, dass wir uns diese Geschichte ansehen müssen.

Gendermedizin kann ein deprimierendes Thema sein. Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung in Ihrer Forschung gibt?

Die Medizin als eine Wissenschaft, die sich vorwärts bewegt, versäumt es oft, ihre Geschichte als Teil ihrer ­Gegenwart zu betrachten. Alles, was ich tun wollte, war zu zeigen, dass wir uns jetzt mit diesem Erbe auseinandersetzen. Dass wir als Menschen versuchen, unsere gesundheitlichen Bedürfnisse für die Behandlung angemessen zu berücksichtigen. Wir können langfristig denken, weil wir die Ressourcen haben. Unsere Geschichte ist uns nicht fremd.

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