Türkisches Mediengesetz: Kontrolle komplett
Das neue Mediengesetz bekämpft nicht „Desinformation“, sondern Presse- und Meinungsfreiheit, wo sie bislang noch möglich war: im Internet.
Es war ein denkwürdiger Auftritt im türkischen Parlament in Ankara. Als am Donnerstagabend die Debatte um ein neues Mediengesetz ihren Höhepunkt erreichte, ging der Oppositionsabgeordnete der CHP, Burak Erbay ans Rednerpult, holte einen Hammer hervor und zertrümmerte damit sein Smartphone.
Das, ließ er die anderen Abgeordneten wissen, könnten zukünftig alle TürkInnen mit ihrem Handy machen, wenn das zur Diskussion stehende Gesetz verabschiedet würde. Mit ihrem Handy würden die BürgerInnen der Türkei sich dann nur noch selbst in Gefahr bringen. So eindrucksvoll der Auftritt von Burak Erbay auch war, das Gesetz wurde ein paar Stunden später trotzdem mit der absoluten Mehrheit der beiden Regierungsparteien AKP und MHP verabschiedet. Zuvor hatte es Präsident Recep Tayyip Erdoğan als ein vordringliches Vorhaben für den Beginn der neuen Sitzungsperiode am 1. Oktober im Parlament bezeichnet.
Mit dem Gesetz gegen „Desinformation“, wird aus Sicht der Regierung eine letzte Lücke geschlossen, die bislang die völlige Kontrolle über die öffentliche Meinung noch verhinderte.
Erdoğan, der im Frühjahr 2003 Ministerpräsident wurde, hatte in seinen ersten fünf Jahren an der Regierung noch eine Pressevielfalt zugelassen, wie man sie in der Türkei zuvor selten gesehen hatte. Doch je mehr er seine Macht ausbauen konnte, umso stärker wurde das Verlangen seiner Regierung, die öffentliche Meinung kontrollieren zu können. Das begann Ende der Nullerjahre zunächst damit, dass die Regierung Industrielle unterstützte, die Zeitungen und TV-Anstalten aufkauften, um sie anschließend auf einen regierungsfreundlichen Kurs zu bringen. Zu der Zeit gab es aber noch etliche kritische Medienhäuser. Das änderte sich nach den großen Protesten gegen Erdoğan im Sommer 2013, dem sogenannten Gezi-Aufstand. Jetzt setzte Erdoğan die verbliebenen Medienhäuser, denen er nachsagte, die Proteste unterstützt zu haben, massiv unter Druck. Gegen den Dogan-Konzern, der unter anderem die größte Zeitung Hürriyet herausgab, wurden Steuernachzahlungen konstruiert, die das Haus ruinierten. Aydin Dogan, der Patriarch der Gruppe, verkaufte daraufhin seine gesamte Mediensparte an Erdoğan-nahe Konzerne.
Genau so lief es mit den Fernsehkanälen. Den Putschversuch vom Sommer 2016 nahm Erdoğan dann endgültig zum Anlass, um nahezu alle verbliebenen kritischen Medienhäuser zu verbieten. Seitdem findet die Meinungsbildung in der Türkei fast vollständig im Internet statt, hauptsächlich bei Twitter, Facebook oder Instagram. Zunächst verlegte sich die Regierung darauf, kritische Inhalte per Justiz löschen zu lassen. Doch das dauerte lange und die großen Onlinekonzerne spielten auch nicht mit. Per Gesetz wurden sie dann gezwungen, örtliche Vertreter in der Türkei zu ernennen, die für schnelle Löschungen sorgen müssen.
Doch das alles konnte bis heute nicht verhindern, dass Berichte über Ereignisse, die die Regierung unterdrücken will, oder Meinungen, die sie zensieren will, immer noch in Windeseile über die sozialen Medien verbreitet werden. Es wurden zwar immer wieder UserInnen für ihre Posts angeklagt und auch verurteilt, doch die geltende Gesetzeslage gab das eigentlich nicht her und auch die willfährige Justiz konnte die Gesetze nicht komplett ignorieren.
Diese Lücke schließt jetzt das neue Gesetz gegen „Desinformation“. Herzstück des neuen, 40 Artikel umfassenden Gesetzes, sind die Paragrafen 29 und 30. Die sehen vor, dass Menschen, die „Falsche oder irreführende Informationen über die innere und äußere Sicherheit des Landes“ verbreiten, oder durch ihre Nachrichten „die öffentliche Ordnung stören sowie Angst und Panik in der Bevölkerung verbreiten“, für bis zu drei Jahren in Haft genommen werden können.
Sämtliche türkischen Journalistenorganisationen und Anwaltsvereine haben seit Langem darauf hingewiesen, dass diese angeblichen Straftaten so vage formuliert sind, dass Internet-User nach Belieben verurteilt werden können. Deshalb hat der CHP-Abgeordnete Burak Erbay sein Handy derart demonstrativ im Parlament zerstört. Auch die Europäische Kommission und der Europarat haben sich besorgt gezeigt, dass die Drohung mit massiven Haftstrafen zur Selbstzensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit führen könnte.
Amnesty International ist nicht so zurückhaltend und formuliert seine Kritik ähnlich wie die Opposition in der Türkei: „Mit diesem Gesetz können die türkischen Behörden vor den 2023 stattfindenden Wahlen ihr systematisches Vorgehen gegen jegliche Kritik im Land noch weiter verschärfen“, sagte die Janine Uhlmansiek, Europaexpertin von AI. Burak Erbay hat bereits angekündigt, dass seine Partei vor dem Verfassungsgericht gegen das Gesetz klagen wird.
Doch selbst wenn das Verfassungsgericht die Klage annimmt: Vor den Wahlen im kommenden Frühjahr wird keine Entscheidung fallen. Erdoğan hat sein Projekt, die öffentliche Meinung zu kontrollieren, erst einmal komplett gemacht.
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