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UnerzählteGeschichten eines oft gezeigten Bildes

Eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahr 1931 ist seit den 1970ern zum Symbol bedrohten jüdischen Lebens in Kiel avanciert. Das Stadtmuseum erkundet erstmals, wie sie entstand – und was sie erzählt

Das letzte Lichterfest der Familie Posner in Kiel würde von bösen Nachbarn verschattet werden Foto: Rachel Posner / Stadtarchiv

Von Frank Keil

Einmal lautet die Bildunterschrift des Fotos schlicht „Chanukka-Leuchter am Fenster“. Es sei 1932 aufgenommen worden oder 1933 oder irgendwann im Zeitraum bis 1938, ist zu lesen. Kiel wird als Ort genannt oder auch nicht. Die auf dem Foto, mal in einem Schulbuch, mal als Bebilderung eines Zeitungsartikels genutzt, deutlich erkennbare Hakenkreuzfahne wird am Kieler Rathaus vermutet. Was jeweils auf der Strecke bleibt, ist eine Bild-Verortung: Wer hat das Foto wann und wo gemacht, und unter welchen Bedingungen?

In dieses Bermuda-Dreieck aus AutorInnenschaft, Ortsangabe und Zeitbezogenheit springt die Ausstellung mit dem nur vordergründig ungelenken Titel „Kiel, Chanukka 1931. Rahel Posners Foto erzählt“, die im Kieler Stadtmuseum zu sehen ist – mit initiiert durch die Forschungen des Flensburger Bilder-Historikers Gerhard Paul. Sie nimmt sich nüchtern-präzise die Bild- wie Verbreitungsgeschichte jener zentralen Fotografie vor und bietet dazu neben einer Fülle historischer Fotografien auch Zeitungsdokumente und Hörstationen. Ebenso ist das Bild zu ertasten und es fängt auch an selbst zu erzählen.

Was man bisher weiß und was zuletzt durch die Recherchen der Flensburger Historikerin Bettina Goldberg untermauert wurde: Das Foto ist zu Chanukka des Jahres 1931 in der Wohnung des Kieler Rabbiner-Ehepaares Rachel und Arthur Posner aufgenommen worden. Diese befand sich im Wohnhaus der Straße Sophienblatt mit der Hausnummer 60, also in der Kieler Innenstadt. Und schräg gegenüber hatte ab dem 1. November 1931 in der Hausnummer 35 die NSDAP-Kreisleitung mitsamt den sieben Kieler NSDAP-Ortsgruppen ihr Quartier bezogen.

Fotografiert hat das Bild Rachel Posner, die Ehefrau des Kieler Rabbiners Arthur Posner. War ihr bewusst, dass sie kraft einer schlichten Alltagssituation – dem Blick aus dem Fenster – ein hochsymbolisches Bild schaffen würde? Fiel einfach nur winterliches Licht auf den Leuchter und ergab für sie schlicht ein schönes Motiv? Oder hatte sie die Plattdeutsch-Kolumne in der Nazi-Wochenzeitschrift „Volkskampf“ gelesen, in der höhnisch gefragt wurde, ob der gegenüber wohnende Rabbiner wohl noch gut werde schlafen können? In genau diesem Moment hat das – durchaus reizvolle – Spekulieren begonnen. „Wir wollen das Foto erzählen lassen, denn es hat eine erstaunliche Karriere hinter sich“, sagt Stadtmuseumsleiterin Sonja Kinzler. Diese beginnt erst, als das Bild nach Kiel zurückkehrt: 1974.

In dem Jahr plant der damalige Leiter des Stadtmuseums Jürgen Jensen die erste Ausstellung zur Geschichte jüdischen Lebens in Kiel. Er steht dabei vor einem Problem: Was soll er zeigen? Mit was soll er die hauseigenen Vitrinen bestücken, was auf Sockel stellen, mit was die Wände behängen? Das Haus selbst hatte wenig zu jüdischem Leben gesammelt. Zwar helfen einige Leihgaben aus den Beständen anderer Kunsthäuser und Regionalmuseen sowie privater Sammlungen, doch originäre Exponate aus dem Kieler Judentum sind vorerst nicht zu finden. Jensen beginnt, sich bei überlebenden jüdischen Familien zu melden, zu denen Kontakt besteht.

Die meisten können nicht helfen: Sie hatten gerade mal das eigene Leben retten können. Fündig wird er jedoch bei Rachel Posner. Sie schickt ihm von Jerusalem aus einen Umschlag mit 15 Fotos. Sie zeigen beispielsweise die damaligen Mitglieder des Kieler Jüdischen Turnvereins, einen Balkon, der 1925 für das Laubhüttenfest geschmückt ist, oder Rabbi Posner, ihren Mann, im Kreise seiner Talmud-Schüler. Mit dabei ist auch jenes Chanukka-Bild. In der Ausstellung selbst, die den von heute aus gesehen verblüffend unbedarft wirkenden Titel „Jüdisches Leben in Kiel – Brauchtum und Kult“ trägt, wird es gar nicht besonders hervorgehoben und auch nicht befragt. Doch es passt offenbar bestens, um Zeitungsartikel über die Ausstellung zu illustrieren. Es wird nachgedruckt und nachgedruckt und verbreitet sich. „Wir gehen davon aus, dass es ein privates Foto ist“, sagt Kinzler.

Schon, ob Rachel Posner es als Negativ oder als Abzug vielleicht in einem Familienalbum im Gepäck hatte, könne man nicht sagen. Denn die Familie verlässt rechtzeitig Kiel, auch weil Arthur Posner seine Tätigkeit als Rabbiner aufgeben muss: Die Kieler Gemeinde kann ihn wie auch den Religionslehrer aufgrund der erzwungenen Neuordnung der Gemeindestrukturen nicht mehr bezahlen. Zugleich nehmen die Attacken auf die Kieler Juden zu. Schon 1932 hatte es ja einen Bombenanschlag auf die Synagoge und das Karstadt-Kaufhaus gegeben und einen Prozess ohne eine Verurteilung.

Die Nazi-Zeitschrift „Volkskampf“ fragte höhnisch, ob der Rabbiner noch gut schlafen könne?

Im Juni 1933 wird das Ehepaar Posner mit seinen drei Kindern von der Gemeinde auf dem Kieler Bahnhof verabschiedet. Auch davon gibt es Fotos, von denen das eine oder andere von Rachel Posner stammen könnte. Die Familie geht erst nach Antwerpen, dann weiter nach Palästina. Dort baut sich Arthur Posner, der sich nun mit Vornamen Akiva nennt, als Bibliothekar eine neue Existenz auf und setzt seine publi­zistisch-forscherische Arbeit fort.

Er wird von Israel aus – auch davon erzählt die Ausstellung – den Kontakt zu Kiel halten, auch wenn er selbst nie wieder nach Kiel reist. Er regt immer wieder an, am Ort der einstigen Kieler Synagoge Ecke Goethestraße / Humboldtstraße wenigstens eine Gedenktafel anzubringen. Das geschieht erst 1968, da ist er nicht mehr am Leben. „Für jede auch die kleinste Auskunft werde ich dankbar sein“, schreibt er im Mai 1957 dem damaligen Oberbürgermeister Hans Müthling, einem NSDAP-Mitglied, das nach dem Krieg in die SPD gewechselt war, und bittet ihn um Unterstützung bei der Suche nach Mitgliedern der ehemaligen Gemeinde. Was beispielsweise ist aus den Brüdern Levy geworden, die zuvor von Friedrichstadt nach Kiel gezogen waren, oder wie erging es der fünfköpfigen aus Russland stammenden Familie Abramowitz, die zurückblieb, als die Posners auswanderten? „Jede Mitteilung wird in meiner Arbeit in Ihrem Namen gebracht werden.“

Dabei hätte Posner gute Gründe gehabt, einen weniger zurückhaltenden Ton an den Tag zu legen: Immer wieder hat er selbst und später seine Witwe der Stadt angeboten, ihr seine von ihm nach und nach verfasste Chronik des jüdischen Lebens in Kiel zu überlassen. Seitens der Stadt wurde das Angebot nie angenommen. Das immerhin könnte sich nun ändern: Geplant ist die Herausgabe einer kritischen Edition der Chronik Posners. Sie wäre ein Ausgangspunkt für weitere Forschungen nach dem Verbleib der einstigen Kieler Juden.

„Kiel, Chanukka 1931. Rahel Posners Foto erzählt“, Stadt- und Schifffahrtsmuseum, Kiel, tägl. außer Mo, 10-18 Uhr. Bis 12. 3. 2023

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