: Aufstand fürs tägliche Brot
Infolge des Ukraine-Kriegs hat die Ernährungssituation sich in vielen Ländern des Globalen Südens noch weiter verschlechtert
Von Dierk Jensen
Die Lage ist ernst. Sehr ernst. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den Ländern des Globalen Südens, die unter den Auswirkungen des Kriegs im östlichen Europa heftig leiden. Obgleich die ersten Schiffe mit Getreide über das Schwarze Meer das Kriegsgebiet inzwischen verlassen konnten, droht in vielen Ländern eine schon vor dem Krieg durch Corona und Dürre verursachte Nahrungsmittelknappheit sich noch weiter zu verschärfen.
„Es ist ja nicht so, dass es vor dem Krieg nicht schon eine Ernährungskrise gab“, präzisiert Markus Wolter die Situation. Er ist Referent für Landwirtschaft und Welternährung beim katholischen Hilfswerk Misereor, das weltweit mit Partnerorganisationen zusammenarbeitet, um die Lebensbedingungen vor Ort nachhaltig zu verbessern. „Die Zahl der Hungernden ging schon während der Corona-Pandemie nach oben. Dies hat sich aber durch den Überfall Russlands auf die Ukraine noch mal dramatisch verändert. Die Durchschnittspreise für Betriebsmittel wie Dünger haben sich in manchen Regionen um den Faktor vier bis sechs erhöht. Die Brotpreise sind in manchen Ländern sogar um 40 Prozent gestiegen.“
Das hat böse Folgen. Dabei betont der Misereor-Experte, dass es gar nicht mal eine Mengenkrise sei, sondern es sich bei der derzeitigen angespannten Ernährungslage in vielen Ländern, ob nun in Lateinamerika, in West- und Ostafrika, in Afghanistan oder in einigen Ländern in Nahost, um eine „Verfügbarkeitskrise“ handelt. Mit anderen Worten, wer nicht genug Geld hat, geht leer aus – muss hungern.
Nach Schätzungen der UN-Organisation FAO hungern fast eine Milliarde Menschen gegenwärtig – tendenziell steigend. Ein offenbar länger anhaltender Krieg in der Ukraine wird daher viele Menschen in vielen Regionen der Welt in den sicheren Tod treiben. Deshalb plädieren Martin Wolter und auch sein Kollege Raoul Bagopha eindringlich für eine ökosoziale Kehrtwende in der Landwirtschaftspolitik. Das Ziel lautet, sich von den turbokapitalistischen Rohstoffmärkten und ihren spekulativen Kräften und Interessen, zu denen eben auch Getreide, Zucker und Ölsaaten gehören, zu emanzipieren.
„Imperialismus ist eben auch auf den Tellern wiederzufinden“, greift Bagopha ein altbekanntes Zitat auf und wirft es in die Diskussion. Der Misereor-Regionalreferent für Westafrika wirft dabei beispielhaft einen Blick auf Burkina Faso, wo die Inflation inzwischen auf zweistellige Ziffern angestiegen ist und angesichts der globalen Situation wahrscheinlich noch weiter in die Höhe schnellt. Schon jetzt können sich in dem westafrikanischen Land viele Menschen mit geringem Einkommen kaum noch Brot leisten. Dabei ist der Selbstversorgungsgrad des Staates zwischen Mali und Ghana mit 93 Prozent noch verhältnismäßig hoch: Doch kann die Lücke von 7 Prozent bei den aktuellen Weltmarktpreisen im Wettbewerb mit anderen Ländern und Märkten kaum aus eigenen Kräften geschlossen werden.
Daher kann sich Bagopha durchaus „Brotaufstände“ vorstellen, die in einem politisch komplizierten Umfeld zu heftigen gesellschaftlichen Verwerfungen führen könnten. „Burkina Faso muss sich, um nicht in der Katastrophe zu versinken, wie viele Länder der Sahelzone, auf die Förderung der eigenen Landwirtschaft besinnen, um sich von ausländischen Märkten unabhängig machen zu können“, so der Misereor-Mitarbeiter. Nicht ohne Vorwurf erinnert er an das sogenannte Maputo-Abkommen, bei dem sich alle afrikanischen Länder schon vor vielen Jahren verpflichteten, mindestens 15 Prozent aller Investitionen in der Landwirtschaft zu tätigen.
Dieses Ziel ist jedoch über das Stadium der verbalen Proklamation noch nicht hinausgekommen. So sind viele Länder – vor allem in der Sahelzone – weiterhin extrem abhängig von Hilfen von außerhalb.
„Rund 50 Prozent der Lebensmittel werden im Südsudan importiert, daher verteuert die globale Inflation alles im Land, und es kommt zu Verzögerungen bei der Ankunft von Lieferungen und Beschaffungen im Land“, klagt beispielsweise Edith Atieno Obongo, Programmkoordinatorin der Diakonie Katastrophenhilfe in Juba.
Besonders dramatisch ist es in Somaliland und Somalia am Horn von Afrika, die wohl weltweit am schlimmsten von chronischem Hunger betroffen sind. „Spekulation auf steigende Preise ist auch eine Spekulation auf Hunger“, nimmt Thomas Hoerz kein Blatt vor dem Mund. Er ist für die Bonner Welthungerhilfe als Landesleiter in Somaliland im Einsatz. „Im Januar 2022 standen in einem Gebiet im Norden Somalilands, das besonders von Hunger betroffen ist, noch 6.500 Familien auf den Listen der Welthungerhilfe für Lebensmittelverteilung in Kooperation mit dem Welternährungsprogramm. Im Zuge der dramatischen Preissteigerungen und knapper werdenden Lebensmittel musste die Zahl auf 750 Familien reduziert werden.
Die Öffnung des Hafens in Odessa wirkt sich dagegen wieder positiv aus: Die Welthungerhilfe wird schon im September wieder 3.300 Familien in dieser Projektregion unterstützen können“, berichtet Hoerz. „Doch schon vor Beginn des Krieges und den damit einhergehenden dramatischen Entwicklungen gab es wegen der Klimakrise und der zunehmenden Wetterextreme steigende Hungerzahlen. Klimawandel und Konflikte sind die stärksten Hungertreiber. In meinen fünf Jahren in Somaliland habe ich nicht eine Regenzeit erlebt, die man als gut bezeichnen könnte.“
Dabei treffen die aktuellen Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln wie auch beim Wasser die ohnehin schon notleidenden Familien am stärksten.
„Es gibt mittlerweile Familien, die verwenden die Hälfte ihrer Barmittel für Trinkwasser. Wo Menschen nicht mehr genügend zum Trinken und Waschen haben, werden sie krank, und ihre Ziegen, Schafe und Kamele verenden“, so Hoerz. „Wir sehen auf Projektbesuchen, auch in Gegenden, in denen kaum Autos fahren, immer öfter Kinder und Frauen am Straßenrand, die verzweifelt leere Kanister schwenken und um Wasser betteln.“
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