Filmfest Hamburg ist gestartet: Total abgedreht

Beim Filmfest Hamburg feiern die Local Heroes „Beule“, „Balconies“ und „Kiezjargon“ Premiere. Nicht alle muss man gesehen haben.

Ein Mann und eine Frau stehen sich auf dem Kiez gegenüber

Gibts nicht ohne Zuhälterdarsteller: Hamburger Kiezromantik Foto: Kang Lucky

HAMBURG taz | Der 15-jährige Leon streunt 24 Stunden lang über den Kiez. Jeder kennt den Sohn der Prostituierten Isi, und im Bordell ist er ein alter Bekannter, der die Mädchen um Essen anbettelt. Denn Leon hat kein Geld, und wenn er versucht zu stehlen, stellt er sich dabei so ungeschickt an, dass er sogar von der Verkäuferin in einem Backshop erwischt wird, die ihm dann das geklaute Laugenbrötchen wieder abjagt.

Auf der Hamburger Reeperbahn wurden seit den 1920er-Jahren Hunderte Filme gedreht, und da kann man schon fragen, ob der 1978 in Hamburg geborene Filmemacher Il Kang es sich unnötig schwer gemacht hat, indem er sein Sozialdrama „Kiezjargon Leonidas“ in diesem Milieu ansiedelte. Der Mythos des Ortes hat sein Verfallsdatum schließlich längst überschritten. Und in dem Soziotop haben die Menschen eigene Rituale und einen eigenen Jargon entwickelt.

Wenn Kang den jungen Schauspieler Albert Lichtenstern einen Tag lang durch die Straßen, Puffs, Kneipen, Läden und heruntergekommenen Wohnungen des Kiez laufen lässt, dann wird im Grunde mehr geredet als gehandelt. Kang muss genau zugehört haben: Die Dialoge klingen sehr authentisch.

Im Abspann hört man dann einen kurzen Ausschnitt von einer Tonaufnahme, die in einer Kneipe gemacht wurde. Sie gehört offensichtlich zu dem Recherchematerial, mit dem Kang gearbeitet hat. Interessant ist dabei, dass auf der Reeperbahn immer noch ein 5-Euro-Schein „Heiermann“ heißt. Unter Jugendlichen ist dagegen das Kosewort „Digga“ so beliebt wie das F-Wort in amerikanischen Spielfilmen.

Wie einst Uwe Bohm in „Nordsee ist Mordsee“

In einer Sequenz scheint Kang einen Rekord aufstellen zu wollen, denn in diesem Dialog wird so oft Digga gesagt, dass die Sätze kaum noch einen Sinn ergeben. Der junge Schauspieler Albert Lichtenstein spielt Leon ähnlich lebensnah und aufmüpfig wie einst Uwe Bohm den 14-jährigen Helden in „Nordsee ist Mordsee“, und auch alle anderen Dar­stel­le­r*in­nen überzeugen, darunter auch der wohl bekannteste Nebendarsteller des Hamburger Films, der Jurist und Kritiker Dietrich Kuhlbrodt in der Rolle eines Porno­kinokassierers.

29. 9. bis 8. 10. Die Beiträge der Sektion „Hamburger Filmschau“ laufen im Metropolis und im Blankeneser Kino. Infos: www.filmfesthamburg.de

„Kiezjargon Leonidas“ läuft auf dem Filmfest Hamburg, das heute eröffnet wird, in der Reihe „Hamburger Filmschau“. Hier feiern neue Hamburger Produktionen ihre Premieren, und der Charakterdarsteller Daniel Michel muss deshalb in diesem Jahr gleich zweimal auf die Bühne: Außer in Kangs Film spielt er auch in Janek Riekes Komödie „Beule“.

Rieke ist vor allem als Schauspieler bekannt, zum Beispiel als Kommissar in der Serie „Der Kriminalist“. Doch begonnen hat er seine Karriere 1998 als Regisseur des Spielfilms „Härtetest“, der damals den Publikumspreis des Max-Ophüls-Festivals gewann. Für seine zweite Regiearbeit hat er sich 24 Jahre Zeit gelassen.Der Filmtitel hat einen doppelten Sinn, den einerseits ist „Beule“ der Spitzname des Filmhelden Olli, andererseits ist dessen Freundin Anja in den meisten Einstellungen des Films hochschwanger.

Diese Schwangerschaft macht Olli auch Schwierigkeiten. Er kommt mit Anjas Stimmungsschwankungen nicht klar. Olli ist einer von denen, die sich nicht wehren können. Von seinen drei Freunden wird er ständig gepiesackt und nun nervt ihn auch noch die Freundin. Kein Wunder also, dass er mit einem Beil Zigarettenautomaten zertrümmert.

One-Liner über den Hamburger SV

Es ist schon komisch, wie „Beule“ von einer Katastrophe in die nächste stolpert. Rieke spielt ihn selbst als ein sympathisches Stehaufmännchen. Es gibt in seinem Film zwar auch ein paar witzige One-Liner, zumal über den HSV, aber Rieke hat vor allem eine Vorliebe für Situationskomik. Da wird viel kaputtgemacht – vor allem an Autos tobt der Regisseur seine Zerstörungslust gern aus. Sein Humor ist schwarz, aber nie zynisch.

Auch „Balconies“ von Anja Gurres soll eine Komödie sein – das macht schon die gutgelaunt beschwingte Filmmusik mit akustischer Gitarre und Akkordeon deutlich. Doch vor allem ist der Spielfilm ein Experiment des minimalistischen Erzählens. Die 82 Minuten des Films wurden nur auf Hamburger Balkonen gedreht. In sechs Episoden werden kleine Dramen mit höchstens zwei Dar­stel­le­r*in­nen durchgespielt, in einer spielt sogar nur ein Darsteller mit Playmobil-Figuren.

Auch von einer großen dramaturgischen Dringlichkeit kann bei diesen kleinen Geschichten kaum die Rede sein. Es geht eher um Alltäglichkeiten: Eine junge Frau strampelt sich auf einem Heimtrainer ab, während ihre Freundin, die zu Besuch in Hamburg ist, gelangweilt einen Liebesroman liest.

Sollen sie in die Stadt gehen oder lieber auf dem Balkon bleiben? Ein Paar will die Beziehung durch Sex auf dem Balkon aufpeppen. Aber was, wenn die Nachbarn was sehen? Bei einer Wohnungsbesichtigung werden ein Bewerber und eine Bewerberin auf dem Balkon ausgesperrt und ein schwules Paar streitet sich um ein Orangenbäumchen, das ein Geschenk von einem Verflossenen war. Das wird nicht langweilig, lässt aber die Frage unbeantwortet, warum das erzählt werden soll. Und warum angesehen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.