Festival Ruhrtriennale 2022: Richtiger Rave im falschen Leben
Techno gegen Ohnmacht: An der Ruhrtriennale inszeniert Regisseur Łukasz Twarkowski mit „Respublica“ die Vorstellung für ein anderes Zusammenleben.
Wie verlockend es noch immer klingt, aus der ganzen kapitalistischen Misere auszusteigen. Obwohl bereits vor Jahrhunderten erprobt wurde, eine Miniaturutopie jenseits der Ausbeutungs- und Leistungsgesellschaft umzusetzen.
Der Regisseur, Videokünstler und Raver Łukasz Twarkowski projizierte solche Bestrebungen etwa in die Republik Paulava, eine kleine selbstverwaltete Bauerngemeinde, die 1769 vom katholischen Priester Paweł Brzostowski, einem Sozialutopisten, ausgerufen wurde. Brzostowski ernannte sich selbst zum Präsidenten und schaffte die Leibeigenschaft ab. Allerdings ist umstritten, ob diese Republik nur eine Vorform des Kapitalismus war.
Doch um eine Überwindung dieses Systems geht es Twarkowski auch gar nicht, sondern vielmehr darum, eine Gemeinschaft zu erschaffen, in der die Gefühle, das Miteinander ausgelebt werden können. Als im März 2020 ein Virus die Welt zum Stillstand brachte, trommelte der Künstler in der Nähe von Vilnius Mitglieder des Lithuanian National Drama Theatre zusammen.
Aussteigen in den Wäldern
Sie lebten fortan als Aussteiger in den litauischen Wäldern. Eine Kultureinrichtung aus Vilnius sicherte ihnen ein Grundeinkommen von 15 Euro pro Tag. So konnte sich die Gruppe ihrem Anliegen widmen: Raves in den Wäldern zu organisieren und zu tanzen; und zwar so exzessiv, bis sich eine Bewusstseinserweiterung, eine Magie der Gemeinschaft einstellte. Es riecht nach 68er-Folklore, gar nach New-Age-Geschwurbel.
„Respublica“, Ruhrtriennale, noch bis 17. Septembe
Doch dieses Unterfangen war bewusst inszeniert und wurde von Twarkowski mit der Kamera dokumentiert. Aus dem Material schuf er gemeinsam mit der Autorin Joanna Bednarczyk, dem bildenden Künstler Fabien Lédé, dem Komponisten Bogumil Misala, DJ SPECTRIBE sowie dem Choreografen Paweł Sakowicz das Mammutprojekt „Respublika“, ein Reenactment dieses Aussteigerexperiments, das zunächst bei den Münchner Kammerspielen präsentiert wurde.
Mitmach-Gesamtkunstwerk
Nun lädt auch die Ruhrtriennale dazu ein, diese sechsstündige Produktion in der Bochumer Jahrhunderthalle zu sehen. Oder vielmehr daran teilzuhaben. Denn „Respublica“ ist als Gesamtkunstwerk konzipiert, das alle möglichen Elemente zu verschmelzen beansprucht: Schauspiel, Happening, Mockumentary, Expanded Cinema und vor allem Technokultur.
Bevor die elektronischen Beats wummern, hat das Publikum die Möglichkeit, das überwältigende Bühnenbild von Fabien Lédé zu erkunden. Dafür erhalten eingangs alle eine Karte, um sich im nachgebildeten Aussteigerdorf zurechtzufinden. Dieses Environment beherbergt Trailer-Interieurs, eine Küche und einen Mini-Club, in dem ein DJ auflegt.
Sogar eine Sauna und eine Dusche sind aufgestellt. Wer will, darf sich ein Handtuch ausleihen und schwitzen gehen. Wer sich zunächst umschaut, sieht anfangs die Schauspieler:innen, die den Aussteigeralltag vorgaukeln: Da streiten sie sich etwa darüber, wer am Vorabend zuletzt ins Bett ging und vergaß, das Licht auszuschalten – eine Szene, die sich so wahrscheinlich in etlichen WGs ähnlich abspielt.
Später kuschelt ein Paar eng umschlungen unter einer Decke, voyeuristisch beobachtet vom Publikum. Das ganze Treiben findet sich zudem auch auf den Bildschirmen und der großen Leinwand wieder, an denen die meiste Zeit die Augen der Gäste kleben. Kamerateams mäandern regelmäßig durch die Halle, um die Darbietungen zugleich live zu filmen. Das erinnert an die Video-Experimente von John Jesurun bis Kay Voges. Es reproduziert aber auch eine Prise Reality-TV-Soap. Dabei ist das Publikum angehalten, Teil dieses Experiments zu werden.
Doch „Respublica“ kratzt höchstens an der vierten Wand; so wirklich lässt sich niemand aus der passiven Publikumsrolle locken – zumindest bis die ersten Technobässe wummern. Dann wird’s laut. Manche wippen mit. Ein älterer Herr hält sich dagegen die Ohren zu und rennt aus der Halle. Er hat Glück, dass es draußen Ohrenstöpsel gibt.
Letztendlich läuft der Abend auf den finalen Rave hinaus, der die einstige Fabrikhalle in Trockeneisnebel und Stroboskoplichtgewitter taucht. Nebeneinander tanzende Körper bilden eben auch eine ephemere Form der Gemeinschaft. Dass damit eskapistische Motive bedient werden, klingt in Gesprächen zwischen den Darsteller:innen an: Sie kreisen um Liebe, Ängste und schlechte Trips.
Aber sie verlieren sich auch in Wortwechseln über Klimawandel und andere Krisen, die kaum Spielraum lassen. Jene Utopie, die Vorstellungskraft eines anderen Zusammenlebens, die „Respublica“ evoziert, verpufft zugleich als lärmende Bewältigung von Ohnmacht: Weltflucht, Melancholie, Verzweiflung, Hedonismus und Zärtlichkeit als Wette auf einen richtigen Rave im falschen Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!