Ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine: Tolstoi und Puschkin gecancelt

Straßennamen, Statuen, Schreibweisen: Die Ukraine verordnet ihren Bür­ge­r*in­nen eine neue, antirussische Identität. Viele gehen sogar noch weiter.

Drei junge Menschen werfen den Kopf zurück, eine junge Frau trägt eine Scherpe mit goldener Schrift

Drastische Kulisse: Schulabschlussfotos in den Trümmern von Chernihiv Foto: Instagram/Senykstas via reuters

Charkiw taz | Mit einem neuen Gesetz will die Ukraine ab Mitte August das Bewusstsein ihrer Bürger für ihre nationale Identität schärfen. Es sieht ein patriotisches Bildungspaket für Jung und Alt vor. Es soll die Wichtigkeit der militärischen Verteidigung unterstreichen, patriotische Events für Kinder und Jugendliche durchführen, Fake News eindämmen, den Militärdienst populär machen, Wehrsport in den Schulen umsetzen, den Einfluss des „Aggressorstaates“, mit dem natürlich Russland gemeint ist, eindämmen.

Ebenfalls Mitte August hat das ukrainische Bildungsministerium die Lehrpläne für die Fächer „Geschichte der Ukrai­ne“ und „Globale Geschichte“ vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen „als Reaktion auf die Herausforderungen der bewaffneten Aggression Russlands gegen die Ukraine“, so das Bildungsministerium, geändert.

In den neuen Unterrichtsmaterialien wird die UdSSR als eine „imperiale Regierung“ bezeichnet. Neu darin ist eine Unterrichtseinheit zur „bewaffneten Aggression Russlands gegen die Ukraine ab 2014“. Neu in den ukrainischen Geschichtsbüchern sind auch die Begriffe „Russische Welt“ und „Raschismus“, eine Kurzform für „Russischen Faschismus“.

Bereits im Juni hatte der stellvertretende ukrainische Bildungsminister Andrij Witrenko erklärt, dass alle Werke, die die russische Armee „verherrlichen“ würden, wie etwa Leo Tolstois Roman „Krieg und Frieden“, aus dem Lehrplan für ausländische Literatur gestrichen werden sollen. In der Ukraine will man sich aller Dinge entledigen, die an die gemeinsame Vergangenheit mit dem russischen Imperium erinnern.

Katharina die Große wird geschleift

Und es ist nicht nur die Regierung in der Hauptstadt, die diesen Prozess vorantreibt. Auch auf kommunaler Ebene will man dieses Erbe loswerden. Inzwischen gibt es in Kiew keine Tolstoistraße und keine Dostojewskistraße mehr, in Charkiw wurde kürzlich der „Moskauer Rayon“ in „Saltowskij Rayon“ umbenannt, aus dem „Moskauer Prospekt“ wurde dort ein „Prospekt der Helden von Charkiw“ und in Odessa wird wohl bald das Denkmal der Zarin Katherina II. geschleift werden.

Er jedenfalls unterstütze Bestrebungen in dieser Richtung, hatte kürzlich Alexandr Tkatschenko, Minister für Kultur und Informationspolitik, verlauten lassen. „Was das Denkmal für Katharina II. betrifft, so habe ich eine klare Meinung: Ich denke nicht, dass man es stehen lassen sollte,“ zitiert die Ukrajinska Prawda den Minister.

Sein Ministerium werde, sollten sich die Stadträte von Odessa zu einer derartigen Entscheidung durchringen, diese begrüßen. Gleichzeitig regte er an, vielerorts Puschkinstraßen umzubenennen. Derzeit gebe es in der Ukraine 400 Puschkinstraßen, und das sei eindeutig zu viel, so Tkaschenko.

Einer, der noch vor nicht allzu langer Zeit in den ukrainischen Medien verdächtigt wurde, einen russischen Pass zu besitzen, Odessas Bürgermeister Genadij Truchanow, wird wohl kaum etwas gegen das Schleifen des Denkmals der Zarin einzuwenden haben. „Auch Odessa hat in diesem Krieg Verluste erlitten“, zitiert der russische Dienst der deutschen Welle den Bürgermeister.

Hass auf beiden Seiten

„Wir jedenfalls wollen nichts mit einem Staat zu tun haben, der unsere Stadt, unser Land von der Erde tilgen möchte. Ich spreche hier von Straßennamen, die nichts mit der Geschichte von Odessa zu tun haben“. Straßen, wie die Nowomoskowskaja, Borodinskaja, Kurskaja, Woroneschskaja, Chapajewa und andere, so Truchanow, sollten umbenannt werden.

Doch vielen gehen die staatlichen Bemühungen bei der Festigung der ukrainischen Identität nicht schnell genug voran. „Ich bin mit einer Frau aus Luhansk befreundet, die 2014 in einen Ort nahe Kiew gezogen ist“, berichtet Irina Schumilowa vom Charkiwer Portal assembly.org.ua gegenüber der taz.

Dieser Ort heißt Butscha. Sie hat ihr ganzes Leben lang Russisch gesprochen. Sie ist die Mutter eines reizenden 9-jährigen Mädchens. Doch nachdem sie mit eigenen Augen gesehen hat, wie eine Frau und ihr 14-jähriger Sohn in ihrem Auto getötet worden sind und dann eine Woche unbestattet auf der Straße lagen, hat sie sich entschieden, nie mehr russisch zu sprechen. Nun möchte sie sogar in der Armee kämpfen, um die Feinde zu töten.

Aber auch auf der anderen Seite, so Schumilowa, beobachte sie eine Verhärtung. Ein Bekannter aus dem Donbass sei voller Hass auf die Ukraine, seit er auf eine Mine getreten ist. Immer mehr setzt sich auf ukrainischen Internetportalen eine neue Schreibweise durch. Die Wörter Putin, Russland und die Namen bekannter russischer Propagandisten werden nur noch in Kleinschreibung wiedergegeben. Und diese Schreibweise scheint sich durchzusetzen, auch ohne ein Gesetz.

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