Rezension des Spielfilms „Evolution“: Vom Überleben und vom Leben
In „Evolution“ hadern Generationen einer jüdischen Familie mit den Folgen des Holocaust. Der Film ist aber mehr als nur eine Suche nach der Wahrheit.
Es beginnt wie ein Horrorfilm, geht weiter als Kammerspiel und endet als zarte Romanze mit dem Kuss zweier Teenager. Den erfahreneren unter den Zuschauer*innen wird klar sein, dass es sich beim verbindenden Thema zwischen den disparaten Teilen um den Holocaust handelt. Der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó adaptiert mit „Evolution“ ein Theaterstück seiner Ehefrau Kata Wéber, die selbst Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden ist.
Der Gang durch die Genres markiert eine Suche nicht nur nach der historischen Wahrheit, sondern vor allem nach der emotionalen Prägung, die die Naziverbrechen durch die Generationen hindurch hinterlassen haben. Ob es sich dabei um eine „Evolution“, eine Entwicklung handelt, ist die implizite Frage.
Die Horroratmosphäre der ersten Szene wirkt erst mal in erschreckendem Maß historisch stimmig: Eine Gruppe grobschlächtiger Männer bricht eine Art Verlies auf und beginnt Wände und Boden mit Wasser, Schrubbern und Kalk zu bearbeiten. Reinigen sie eine Gaskammer oder ist das eine Suche nach den Spuren der Opfer? Darüber besteht zunächst noch Unsicherheit. Dann findet einer der Männer ein paar Haarreste in der Wand, der nächste zieht schon ein ganzes Büschel aus einem Duschkopf, und bald entdecken sie immer mehr Haare, überall.
Im Herausziehen werden Wände und Böden brüchig, die Menge an Haaren überall nimmt fast groteske Ausmaße an. Schließlich hören sie ein Baby schreien, von irgendwo aus dem Untergrund. Hektisch reißen sie Gullis und Leitungen auf – und retten aus einem Abfluss ein nacktes, kleines Mädchen.
„Evolution“. Regie: Kornél Mundruczó. Mit Lili Monori, Annamária Láng u. a. Deutschland/Ungarn 2021, 97 Min.
Geburtsort: Kasernenstraße, Auschwitz
Über eine Serie von weiteren groben Männerhänden wird das Kind ins Freie gereicht, wo sowjetische Soldaten stehen und man endgültig begreift, wo die Szene spielt. Während das Mädchen warm eingewickelt in den Armen eines Offiziers auf einem Jeep davonfährt, erhebt sich die Kamera in die Lüfte und gibt den Blick frei auf ein Areal von endlos scheinenden dunklen Baracken, die sich bedrohlich aufgereiht in Reih und Glied vor der winterlich-weißen Umgebung abheben.
Wie sie es geärgert habe, dass sie ihren Geburtsort mit „Kasernenstraße, Auschwitz“ angeben musste, hört man eine vom Alter gezeichnete Éva (Lili Monori) im nächsten Teil des Films gleich mehrfach erzählen. Sie soll eine Auszeichnung erhalten, ihre Tochter Léna (Annamária Láng) ist gekommen, um ihr beim Anziehen zu helfen. Aber sehr schnell geraten die beiden Frauen in einen hitzigen Dialog, der weniger Streit ist, sondern eine Anhäufung von Vorwürfen, die beide jedoch gegenseitig schon zu oft gehört haben, als dass sie sich noch richtig verletzen könnten.
Während Éva der Tochter die einschneidenden Ereignisse ihres schwierigen Lebens vorhält – im KZ geboren werden, als Kind im Nachkriegsungarn dem Stalinismus huldigen, während der eigene Vater wegen angeblicher zionistischer Aktivität im Gefängnis sitzt – versucht Léna eher defensiv sich selbst zu behaupten.
Ihr ganzes Leben sei vom Holocaust geprägt worden, aus zweiter Hand quasi, von den Marotten der Großmutter und den Neurosen der Mutter, nun wolle sie wenigstens etwas davon haben. „Ich will keine Überlebende sein, ich will leben!“ Sie durchstöbert die Unterlagen der Mutter nach Geburtsurkunden und Nachweisen. Wenn sie die jüdischen Vorfahren ihres Sohnes belegen kann, bekommt sie für ihn einen Platz in einem besseren Kindergarten.
Auch diese zweite Szene spielt mit einer kalkulierten Mischung aus naturalistischen und künstlichen Elementen. Wie schon die erste ist sie in scheinbar einer einzigen Einstellung gedreht (Kameramann ist der französische „Superstar“ seines Fachs, Yorick Le Saux). Agil bewegt sich die Kamera durch verschiedene Räume, nimmt mal die eine, mal die andere Figur ins Visier und sorgt für Dringlichkeit, wo der Dialog ins Stocken gerät. Am Ende zerstört sich die sorgfältige Konstruktion der Einheit von Raum und Zeit quasi selbst, übrig bleibt eine Metapher, die zu beschreiben ein Spoiler wäre.
Der Nachteil solcher virtuoser Kunstgriffe zeigt sich leider im dritten und letzten Teil des Films. Er spielt in Berlin, wo Lénas Sohn Jónás (Goya Rego) zur Schule geht. Eine von ihm gebastelte Chanukkalaterne wurde von Mitschülern in Flammen gesetzt, wegen Brandalarm wird die ganze Schule geräumt. Anders als in den Teilen zuvor drängt sich die Dramaturgie des „Alles in einer Einstellung drehen“ nun in den Vordergrund und zerstört das Atmosphärisch-Suggestive.
Plötzlich wird schwerfällig und pädagogisch, wo zuvor disparate Elemente das Mosaik brüchiger Erinnerung und Identifikation formten. Die Lehrerin versucht den möglichen Antisemitismus der Mitschüler herunterzuspielen, Jonas selbst möchte sich frei fühlen von der Vergangenheit seiner Ahnen. Sein Flirt mit Mitschülerin Yasmin (Padmé Hamdemir) steht als Hoffnungszeichen am Ende. Die Frage nach der „Evolution“ bleibt notwendig offen.
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