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Die Kunst der Woche für Berlin„Was tun?“

Kanarien im Schacht beim Künstlerkollektiv Chto Delat, ein kommunistisches Familienarchiv von Leon Kahane und ein Ikarus der Luftfahrt mit Daniel Hölzl.

Daniel Hölzl, „Grounded“, Ausstellungsansicht Foto: Jens Ziehe; © Daniel Hölzl, Courtesy Dittrich & Schlechtriem, Berlin

Chto Delat?“, „Was tun?“ heißt eine 1902 erschienene zentrale Schrift Wladimir Iljitsch Lenins, in der er die Theorie der Avantgarde des Proletariats entwickelte. Chto Delat nennt sich ein 2003 in Sankt Petersburg in Aktion getretenes Künstlerkollektiv, das als eine der wichtigsten kritischen Stimmen der zeitgenössischen Kunst in Russland gilt. Der Name muss ironisch gemeint sein. Denn Lenins Theorie der Avantgarde des Proletariats führte zu Kaderschulen und Hierarchie anstelle von Selbstorganisation und Kritik der (und durch die) Arbeiterschaft.

Chto Delat stellen derzeit zum dritten Mal bei KOW aus. Und wie sie in ihrer dortigen Ausstellung 2015 und 2017 den Überfall auf die Ukraine 2014 kritisierten und später die Frage eines möglichen Exils verhandelten, möchte man darin 2022 fast eine Chronik des angekündigten Krieges sehen. Nun präsentieren sie im Obergeschoss von KOW einen Metallkäfig mit mehreren Monitoren, der nicht ohne Grund „Canary Archive“ heißt. Die Kanarienvögel, die auf einem der Monitore so herrlich gelb vor sich hin zwitschern und herumhüpfen, sterben sehr schnell bei Sauerstoffmangel. Daher dienten sie früher den Bergleuten in der Grube als Indikator, wann es für sie höchste Zeit war, nach oben zu kommen.

Die „Zeugnisse eines Kanarienvogels“ auf einem anderen Monitor bringen die Mitglieder der Gruppe vor der Kamera zusammen. Die Phi­lo­so­ph:in­nen Artemy Magun, Alexei Penzin and Oxana Timofeeva, die Choreografin Nina Gasteva und die Künst­le­r:in­nen Olga Egorova (Tsaplya), Nikolay Oleynikov and Dmitry Vilensky sprachen in den Tagen unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine über ihre Eindrücke und Empfindungen, ihre Vorahnungen, ihre Wut, ihre Albträume, über die tektonische Wucht, mit der der Überfall den Alltag zerstört hat.

Ein Aufzug, der nach unten, in den Schacht fährt, unterbricht immer wieder die Szenen. Das Team von KOW hat recht, diesen russischen Stimmen Raum zu geben, weil sie uns darüber auf dem Laufenden halten, was in Russland sonst geschieht, was sonst gedacht wird. Kostbares Wissen, statt des Drecks, der über die Propagandakanäle gesendet wird.

Dekonstruktion der Selbstbeschreibung

Max Kahane (1910-2004) war von Lenins Thesen in „Was tun?“ überzeugt. Früh schon wurde er Mitglied der Kommunistischen Jugend, 1925 trat er in die KPD ein. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten leistete er illegale politische Arbeit, bis er sich gezwungen sah, zu emigrieren. 1938/39 kämpfte er als Flaksoldat im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik. Er war zweifellos ein sehr mutiger Mann. Und Teil der Avantgarde des Proletariats. Als Mitarbeiter des sowjetischen Nachrichtendienstes war der Journalist, der aus einer jüdischen Familie in Hannover stammte, 1945/46 Berichterstatter im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher.

1956 hatte Max Kahane seine Akten mit den Transkripten der einzelnen Prozesstage und Dokumenten mit detaillierten Hintergrundinformationen zu den einzelnen Anklagepunkten dem Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin übergeben. 2015 waren sie Teil der Ausstellung „1945 – Niederlage. Befreiung. Neuanfang.“ in der nun als DHM firmierenden Institution. Dem Enkel Max Kahanes, dem 1985 in Berlin geborenen Künstler Leon Kahane, war die Ausstellung Anlass für ein Video aus der Ich-Perspektive, in dem er Rezeption und Interpretation der Ereignisse nachging, die das Leben seines Großvaters geprägt hatten, wobei die Geschichte umgekehrt auch von ihm, dem wirklichen Widerstandskämpfer und Antifaschisten, geprägt worden war.

Als Leon Kahane sieben Jahre nach der Ausstellung die Akten noch einmal sichtete, fiel ihm auf, wie sein Großvater sie geordnet und dabei in DIN A4-Größe gerissene politische Plakate der damaligen Zeit als Deckblätter benutzt hatte. Diese Plakatreste hat er nun fotografiert und – aufgezogen auf Alu-Dibond im Format 200 x 135 cm – groß reproduziert. Acht davon hängen an den Wänden der Galerie Nagel Draxler, ein neuntes Blatt voll gedruckt mit Datums- und Ortsangaben liegt aufgestapelt im Raum. Der Eindruck der Ausstellungsinstallation „Gedenken unserer durch die Tat!“ ist paradox. Die agitatorische Wucht, mit der, selbst in den Fragmenten erkennbar, ständig der Antifaschismus des sozialistischen Deutschlands beschworen wird, kontrastiert mit der ruhigen Hängung der einzelnen Reproduktionen.

Die Dekonstruktion der Selbstbeschreibung der späteren DDR in Deckblätter der Akten zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ist ein großartiger Akt des Unbewussten. Die Instrumentalisierung der Biografie des Widerstandskämpfers durch die DDR, zeigt Leon Kahane, erhielt so ihr stimmiges Bild: Als Deckerinnerung, Selbstentlastung hinsichtlich der deutschen Verbrechen in der Zeit 1933 bis 1945, in die die deutsche, also auch die DDR-Gesellschaft verwickelt war.

Ikarus der Luftfahrt

„Der wahre Geist jedoch, der durch die Ausstellung spukt“, schreibt der kanadische Künstler, Kritiker und Kurator Mohammad Salemy in seinem lesenswerten Essay im Katalog zur Ausstellung „Grounded“ von Daniel Hölzl bei Dittrich & Schlechtriem, „ist Erdöl“. Denn der 1994 im österreichischen Schwaz geborene Künstler arbeitet mit recycelten Karbonfasern und Paraffinwachs, deren Grundstoff eben Erdöl ist. Erdöl, mit Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegende Energiequelle des Industriezeitalters und damit Brennstoff geopolitischer Konflikte genauso wie Zerstörungsquelle unserer natürlichen Lebensräume. Der Titel „Grounded“, auf Deutsch „erdverbunden“, vor allem aber „mit Startverbot belegt“, lässt sich also deuten.

Tatsächlich ist das flügellose Skelett des aus Carbon-Composite gefertigten Modells DA42-VI des österreichischen Flugzeugherstellers Diamond Aircraft, das im Eingangsbereich der Galerie mit der Spitze nach unten von der Decke hängt, dann auch nur ein Fragment, eine aktuelle Version des in der Kunstgeschichte beliebten Ikarusmotivs. Und auch der Bodenbelag aus schwarzen Karbonfasern und weißem Kerzenwachs im Keller, die fragmentarische, aber maßstabsgerechte visuelle Übertragung eines Rollfelds in den Galerieraum, meint die Piste des längst aufgegebenen Flughafens Tempelhof.

Wie die Fenster in einem modernen Linienflugzeug sind an der Wand die kleinen bis mittelgroßen Wachs-Collagen auf einer Karbonfaserleinwand aufgereiht. Sie zeigen Motoren in Nahansicht, Flugzeugrümpfe und Rollbahnmarkierungen. Zentral ist aber die Skulptur „End-Of-Life cycle four“, die das Fahrwerk eines Airbus 300 – die Passagiermaschine, bei der Karbonfaser massiv zum Einsatz kam, ist inzwischen ausgemustert – in Wachs nachbildet, wobei das vierte Rad des Fahrwerks als im Schmelzen begriffene Paraffinskulptur am Boden liegt. Sie wird über die Dauer der Ausstellung weiter zerlaufen.

Die Installation hat hohen ästhetischen Reiz und macht die Faszination des Fliegens wieder kenntlich, obgleich die aktuellen Erfahrungen dem widersprechen. Das Reisen per Flugzeug wird immer mühseliger, unbequemer und teurer. An die überragende Rolle der Luftwaffe in militärischen Konflikten möchte man, deprimiert durch den Ukrainekrieg, gar nicht denken.

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