Die Kunst der Woche für Berlin: Das Material der Emotion

cameron clayborns Skulpturen im Hamburger Bahnhof sind wesenhaft, mächtig und kommunikativ. Vinzens Sala zeigt Filme von Crachmacheur Frieder Butzmann.

Sicht in die Ausstellung "nothing left to be": Prall gefüllte amorphe Stoffskulpturen hängen in einem Ballen von der Decke

Einfache Materialien mit glamoröusen Effekten: cameron clayborn im Hamburger Bahnhof Foto: © c. clayborn, courtesy Simone Subal Gallery, NY; © Staatliche Museen zu Berlin/Thomas Bruns

Was da an der Decke hängt! Kaum, dass man es bemerkt. Sobald das aber passiert ist, beschäftigt das kleine Gebilde die Aufmerksamkeit umso mehr. Denn was ist das nur, was da so aufgeweckt in die Gegend schaut? Lustige kleine Vögel mit spitzen Schnäbeln? Dazu undeutbar heitere Wesen mit rundem Maul? Und dann liest man, dass es sich um getrocknete Orangenschalen handelt! Uff. Die hellwachen Augen sind die Trockenschrauben, mit denen die Schalen an der Decke befestigt sind. Trotzdem, gerade weil man sich, beim Anthropomorphisieren ertappt, ein bisschen lächerlich vorkommt: Die kleine Installation, die cameron clayborn hoch oben im ersten Saal links im Hamburger Bahnhof angebracht hat, ist einfach eine freundliche herzerwärmende Angelegenheit.

cameron clayborn, immer klein geschrieben, ist Trä­ge­r:in des von den Baseler Versicherungen gestifteten Bâloise Kunst-Preises 2021. Der Preis will jungen Künstlerinnen und Künstlern Sichtbarkeit geben. Daher ist mit ihm ein Ankauf und die Schenkung an ein Museum verbunden – jetzt gehen zwei Plastiken aus der Serie „homegrown“ an die Sammlung der Nationalgalerie. Aus diesem Anlass hat Kurator Sven Beckstette die Ausstellung „nothing left to be“ organisiert, für die clayborn eigens fünfzehn neue Skulpturen und siebzehn Zeichnungen geschaffen hat. Wie schon „orange peels“ (2022) andeutet, arbeitet clayborn gerne mit einfachen Materialien wie Papier, Füll- und Dämmstoff, recycelter Kleidung, Vinyl, Federbügel. Für die nötigen Glamour-Effekte gibt es da und dort Perlen und goldfarbene Bronze.

Ob geometrisch oder biomorph, ob freistehend oder an der Wand angebracht, ob riesig oder klein, clayborns skulpturales Werk übersetzt, wie day (so ersetzt clayborn als non­bi­nä­re:r Künst­le­r:in Personal- und Possessivpronomen) selbst sagt, days Emotionen in Form. Darin – und nicht nur über die Materialien und eben die Form – erinnern die Arbeiten an das Werk von Louise Bourgeois. clayborns Skulpturen und Zeichnungen treten aber deutlich freundlicher auf als etwa Bourgeois’ „The Woven Child“ im Gropius Bau.

Die Skulpturen wie „homegrown #1“ und „homegrown #2“ hängen wie Kokons von der Decke, wirken dabei aber doch mächtig, abwehrbereit mit den perlengeschmückten Auswüchsen, die gleichzeitig doch wie die kommunikativen Tentakel der monumentalen Amöbe fungieren.

cameron clayborn: nothing left to be, Hamburger Bahnhof, Di., Mi., Fr. 10–18 Uhr, Do. 10–20 Uhr, Sa., So 11-18 Uhr, bis 22. Januar, Invalidenstr. 50–51

Frieder Butzmann: Nebelkerzen in Dauerschleife, Galerie Vinzens Sala, Mi.–Fr. 15–19 Uhr, bis 15. Oktober, Sigmarigner Str. 23

50 x Frieder Butzmann

Man darf das nicht verpassen, wie Frieder Butzmann und Thomas Kapielski, zwei weiße, alte Männer von freiem unbeschwertem Geist „Die Schranknummer“ (2022) aufführen. Beide stehen im Freien, für die instrumentale Version spielt Butzmann auf einem Keyboard, während Kapielski Pfeifgeräusche macht. Er hält eine dünne Schnur, die mit einem weißen Ikeaschrank verbunden ist. Die Musik steigert sich, Kapielsi zieht an der Schnur und Krach, der Schrank fällt um. Nachdem er mit Hilfe eines wesentlich jüngeren weißen Mannes wieder aufgerichtet wurde, artikulieren Butzmann und Kapielski für die vokale Version ziemlich unerklärliche Töne und Geräusche. Kapielski zieht an der Schnur und der Schrank fällt mit Getöse um. Für die lautlose Version schließlich halten die beiden Herren die Klappe, dann zieht Kapielski an der der Schnur und der inzwischen ziemlich ruinierte Schrank fällt um – ohne jeden Ton.

Nach dieser Vorführung sitzt man natürlich hocherfreut auf dem roten Samtsofa in der Galerie Vincenz Sala und schaut sich den Clip mit den 6 Klingonischen Liedern an. Er stammt ebenfalls vom Anfang dieses Jahres, kongeniale Begleiterin von Butzmann ist jetzt Veronika Otto auf dem Cello und der Pferdekopfgeige. Bliebe man glatte fünf Stunden auf diesem Sofa sitzen, hätte man die Playlist aus über 50 Kurzfilmen und Clips durch, die der 1954 in Konstanz geborene Künstler und Musiker zusammengestellt hat. „Nebelkerzen in Dauerschleife“ kann als eine Art Retrospektive seines Schaffens als Musiker, Performer, Schauspieler und bildender Künstler betrachtet werden, oder als Crachmacheur wie Butzmann sich selbst nennt.

Der taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz.

Um ihn in aller Kürze vorzustellen, er hat in Berlin von 75 bis 82 studiert, Musikwissenschaft und Psychologe, in Bands wie u. a. Die Nachdenklichen Wehrpflichtigen (zusammen mit Diedrich Diederichsen) gespielt, hat das Plattenlabel Zensor mit begründet, mit Throbbing Gristle zusammengearbeitet, ist später als Duo mit Thomas Kapielski weltweit getourt, weswegen er in Japan Insidern als Erfinder des deutschen Industriepunks gilt. Dass ihm alles zuzutrauen ist versteht man sofort, schaut und hört man auch nur eine halbe Stunde „Nebelkerzen“. Sehr empfehlenswert: „Street Music“, Geräusche, die man bald nicht mehr hören wird, im Zeitalter des Elektroautos.

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war Filmredakteurin, Ressortleiterin der Kultur und zuletzt lange Jahre Kunstredakteurin der taz. Seit 2022 als freie Journalistin und Autorin tätig. Themen Kunst, Film, Design, Architektur, Mode, Kulturpolitik.

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