Jahrestag der Anschläge am OEZ München: 1.000 Puzzle-Teilchen
Unpolitischer Amoklauf oder rechtsextremer Anschlag? Eine vierteilige Sky-Doku rekapituliert die tödlichen Schüsse im Münchner OEZ vor sechs Jahren.
„Dieser 22. Juli. Ich versuche irgendwie, diesen Tag aus meinem Kopf auszulöschen. Keine Chance“, sagt Hüseyin Bayri. Vor sechs Jahren tötete ein 18-Jähriger neun Menschen am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, eine vierteilige Sky-Doku erinnert nun daran.
Dass Bayri den Tag nicht aus seinem Kopf bekommt, liegt daran, dass er damals so nah dran war, nur zwei Meter vom Täter entfernt. Dem 19-jährigen Giuliano Kollmann beigestanden hat, bis er in seinen Armen gestorben ist.
Das hätte man furchtbar reißerisch inszenieren können. Per Reenactment oder mit vor allem die eigene Empathie mit den Angehörigen in Szene setzenden Presenter-Reportern – wie in der ein Jahr nach dem Verbrechen gesendeten ZDF-Produktion „Schatten des Verbrechens“.
Dass Sky hingegen in der Lage ist, den angemessenen Ton zu finden, hat der Sender bereits mit seiner True-Crime-Doku („Schwarzer Schatten“) über den Serienmörder Niels Högel unter Beweis gestellt. Statt Off-Kommentar, setzt Regisseur Johannes Preuss allein auf seine Talking Heads: Hinterbliebene, Helfer vor Ort, Freunde des Täters, Experten, Politiker, Anwälte, Polizisten und Journalisten (wie der SZ-Polizeireporter Martin Bernstein – die Doku ist „in Kooperation mit der Süddeutsche Zeitung entstanden). Insgesamt mehr als dreißig Zeitzeugen kommen zu Wort.
Einen Abend lang im Ausnahmezustand
Wer damals das Geschehen am Bildschirm verfolgt hat, wird sich noch an den Sprecher der Münchner Polizei, an Marcus da Gloria Martins erinnern, der informieren sollte, obwohl er selbst nichts wusste: „Das müssen Sie sich wirklich vorstellen, als ob Sie’n 1.000er-Puzzle lösen müssen; dummerweise sind alle Teile weiß, und von außen schmeißt Ihnen auch noch jemand Teile rein, die gar nicht zum Puzzle gehören.“
„22. Juli – Die Schüsse
von München“,
vier Episoden bei Sky
Die Stadt war einen Abend lang im Ausnahmezustand. Die islamistisch motivierten Anschläge in Paris und Nizza gerade erst geschehen. Die Bilder von Polizisten in Freizeitkleidung, aber mit MP5-Maschinenpistolen in den Händen, gingen um die Welt.
2.300 Beamte waren an 73 vermeintlichen Tatorten in der Stadt im Einsatz. Und dann entpuppte es sich als Einzeltat eines 18-jährigen Mannes. Ein Amoklauf hieß es damals. Große Erleichterung.
Es gibt keine einfachen Antworten
Es blieben die pausenlos klingelnden Handys der Opfer; fast alle: Jugendliche, Kinder mit Migrationshintergrund. Die Polizisten durften die Anrufe nicht annehmen. Der Vater von Giuliano Kollmann, Rudolf, erzählt, wie unangemessen er das Auftreten und die Fragen der Polizisten empfunden hat, als sie ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbrachten. Der damalige Polizeipräsident erklärt die Interessenlage der Polizei. Die Multiperspektivität ist das große Pfund der Doku, mit dem sie wuchert, völlig zu Recht, ohne sich dabei eine der Positionen jemals zu eigen zu machen.
Auf komplizierte Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Ein Journalismus-Student ist nicht etwa den Aufforderungen gefolgt, zu Hause zu bleiben, sondern losgezogen: Hat er mit seinem Handy-Video von Polizisten, die unbescholtene Bürger und Bürgerinnen, einige von ihnen tragen Kopftuch, mit vorgehaltener Waffe zwingen, sich auf den Boden zu legen, Aufklärung geleistet oder zur Panikmache beigetragen?
Die Folgen eins und drei liefern vor allem eine Chronologie der Ereignisse, während es in den Folgen zwei und vier um die Hintergründe geht: Hat man die tödlichen Schüsse nicht vielleicht etwas zu schnell als die gänzlich unpolitische Tat eines psychisch gestörten Mobbing-Opfers abgetan? Und darüber seine rassistischen Motive – seine Bewunderung für den Massenmörder von Oslo und Utøya, Anders Breivik, dessen Pistolen-Modell er sich besorgte – und seine Aktivitäten in rechten Netzwerken, auf der Spiele-Plattform Steam – seine Kontakte zu dem späteren (2017) Schulattentäter von New Mexico, William Atchison – vernachlässigt?
Der Anschlag von München lässt sich durch solche Fragestellungen nicht ungeschehen, die Toten nicht wieder lebendig machen. Möglicherweise aber lassen sich künftige Anschläge „eines neuen Tätertypus', dieses sozial isolierten, aber virtuell vernetzten einsamen Wolfes“ (Florian Hartleb, Extremismusforscher) verhindern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen