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Berliner Graffiti-Buch „BITTE LEBN“Ästhetischer Widerstand

Urbane Kunst und Subkultur haben Berlin ihren Stempel aufgedrückt. Ein Bildband zeigt die Verbindung von Kunst und politischen Inhalten.

Regenbogen-Graffiti in Friedrichshain, 2013 Foto: Reclaim your City

Berlin taz | Es gibt diese Bücher über Graffiti und Subkultur, gemacht für Menschen, die Berlin irgendwie cool finden – Tourist:innen, Zugezogene, Stadt­rand­be­woh­ne­r:in­nen –, die aber tatsächlich kein „Tag“, also keine „Schmiererei“, an ihrer eigenen Hauswand akzeptieren würden und die schon so gar nichts mit den subversiven, linksradikalen Inhalten der Szene zu tun haben möchten.

Und es gibt Bücher, die sind das genaue Gegenteil davon – und werden daher auch nicht im Tourist Store Unter den Linden verhökert. Das in diesem Frühjahr erschienene Buch „BITTE LEBN. Urbane Kunst & Subkultur in Berlin 2003–2021“ ist so eins.

Der 480-seitige Bildband aus dem anarchistischen Verlag Assoziation A verkauft bunte Hausfassaden nicht als Stadtmarketing und trennt Kunst und Kultur nicht von ihren politischen Inhalten. Er gibt stattdessen einen unverstellten Einblick aus dem Inneren einer Szene, die sich seit dem Jahr 2009 im und um das Netzwerk „Reclaim Your City“ organisiert und der Stadt ihren Stempel aufgedrückt hat.

Der Titel „BITTE LEBN“ ist dabei selbst dem Freilichtmuseum dieser Stadt entnommen. Seit 2012 prangt der Schriftzug unter dem Dach an einer Fassade eines Gebäudes an der Schlesischen Straße, ergänzt um ein Anarcho-A und als Fortschreibung des benachbarten, noch aus Mauerzeiten stammenden Graffito „Bonjour Tristesse“.

Der kollektiven Autorenschaft des Buches – verknüpft durch das RYC-Netzwerk – ist mit ihrer Zusammenstellung von Hunderten Fotos und begleitenden Texten eine Hommage an eine, wie sie schreiben, „Kulturbewegung“ gelungen, die ab Anfang der 2000er „in einem nie dagewesenen Ausmaß das Stadtbild der Metropole veränderte“.

Berlin – der ideale Ort für kreative Potenziale

Den Ausgangspunkt für diesen „Frühling“ der Bewegung datiert das Buch auf das Jahr 2003, als sich das Berliner Graffiti-Heft Backjumps in ein Magazin für urbane Ästhetik und Kommunikation umbenannte und bei einer Ausstellung im Bethanien die lokalen Wri­te­r:in­nen mit internationalen Künst­le­r:in­nen wie dem damals noch nicht weltbekannten Banksy zusammenbrachte.

Berlin war damals mit seinem Bestand an (einst) besetzten Häusern, selbstverwalteten, nicht kommerziellen Projekten und noch zu entdeckendem Leerstand der ideale Ort für die Entfaltung der kreativen Potenziale – für die „Aneignung von Stadtraum jenseits der Spielregen der kapitalistischen Marktwirtschaft“.

Die Relevanz dieser Bewegung ergibt sich vor allem aus der Verbindung von künstlerischer und politischer Bewegung. Die Au­to­r:in­nen schreiben: „Wir wollten mit Kunst und Musik der bestehenden gesellschaftlichen Realität entfliehen, aber nicht als Ersatz, sondern als Begleitung der politischen Auseinandersetzungen. Beides gehört zusammen.“ Es ging dabei zugleich um eine Revitalisierung politischer Bewegungen, deren ästhetischer Ausdruck vielfach als „verstaubt“ und „technokratisch“ wahrgenommen wurde.

Der Kampf um die Stadt von unten wurde und wird nicht nur mit Spraydosen und Street-Art-Schablonen ausgetragen, sondern auch mit illegalen Raves in verlassenen Häusern, mit Urban Gardening, Demonstrationen und Polit-Happenings.

Gegen die Reglementierungen von Behörden

Immer geht es dabei darum, sich die Stadt anzueignen, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten, oftmals um den Kampf um universelle Rechte vom Wohnen bis zum Bleiberecht, wie sie unter dem Claim „Recht auf Stadt“ proklamiert werden. Besetzt wird der öffentliche Raum gegen Reglementierungen von Behörden oder Einschränkungen durch Privateigentum.

In zwölf Kapiteln, jeweils eingeleitet durch Karten mit markierten Orten, Crews oder Slogans, führt der Bildband durch die Kunst-Politik-Geschichte Berlins der vergangenen 20 Jahre. Angefangen bei der Vorgeschichte von Hausprojekten und linker Subkultur über die Hotspot-Kieze Kreuzberg und Nord-Neukölln, der Bewegung gegen steigende Mieten bis hin zu den Kämpfen gegen die A100 und der Räumung des Köpi-Wagenplatzes im vergangenen Herbst.

Es geht um Orte wie die einstige Cuvry-Brache, Aktionsformen wie die Räuberpartys in Abrissgebäuden oder die Dachmalereien der Berlin Kidz. Und der Blick geht auch über den Tellerrand hinaus, auf das Fusion-Festival oder zum Kongress der Hedonistischen Internationalen, ins Hamburger Gängeviertel. Aber auch Italien, Griechenland, die USA oder Mexiko finden ihren Platz.

Dass die „aneignerischen Praxen und Subkulturen“ dabei stets Gefahr laufen „selbst zur Marke, zum Standortfaktor zu werden“, also etwa in Form von Touri-Büchern den Wert der Stadt zu steigern, wird dabei nicht verklärt. Währenddessen werden die Möglichkeiten immer kleiner; die neoliberale Stadtentwicklung frisst Räume und alternative Projekte. Dies führt dazu, dass 2022 „viele der dargestellten Formen der Stadtaneignung in Berlin in dieser Weise kaum mehr möglich sind oder nur unter erschwerten Bedingungen“.

Womöglich aber hätte man Berlin ohne diese Bewegung schon ein paar Jahre früher für klinisch tot erklären können. Noch ist es nicht so weit. Möge das Buch, wie der Autor selbst schreibt, ein „Anstoß“ sein, „dass weiterhin viel flaniert, gemalt, geklettert, gehackt, kartiert, gefeiert, protestiert und vernetzt wird“.

„BITTE LEBN. Urbane Kunst und Subkultur in Berlin 2003–2021“: Reclaim Your City, erschienen bei Assoziation A, 2022, 480 Seiten, 38 Euro

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4 Kommentare

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  • Guter Beitrag!



    ...Womöglich aber hätte man Berlin ohne diese Bewegung schon ein paar Jahre früher für klinisch tot erklären können. ...



    Glaube ich nicht. Nich totzugriegen!



    Nun, ich bin nur vorübergehender Seher und kenne mich nicht so aus.



    Wenn ich wieder mal inne Stadt fahre und die alten oder auch neuen Routen ablaufe und was entdecke, was mir gefällt, dann ist das gut!(Supi)



    Besonders von den Öffentlichen(VM) aus entdecke ich manchmal Sachen, wo ich denke, wie kommen die nur dahin.



    flickr.com/photos/...wVRn-5sYJp4-5sYQvx

    Grafitti - Berlin



    flickr.com/search/...=grafitti%20berlin



    Tolle Sachen bei!



    Hier sehe ich natürlich, wo's is.



    flickr.com/photos/...hFJ-2mgE8oH-fjvXKr

  • Es gibt sicherlich interessante und kreative urbane Kunst, handwerklich großartige Graffities aber ein hoher Prozentsatz sind leider nichts anderes als hilflose Schmierereien, die es nicht wert sind, erwähnt oder gar kuratiert zu werden. Und "Tags" an Hauswänden, Laternen oder in den Öffis sind nichts weiter als egoistisch-infantile Reviermarkierungen armseliger Möchtegern-Kreativanarchos.



    Ich finde übrigens urbane Subkultur in Bildform, Musik oder Theater durchaus interessant und spannend, gehöre aber auch zu denen, die keine Graffities an meiner eigenen Hauswand mögen. Und? Bin ich jetzt ein reaktionärer Spiesser?

    • @Stefan L.:

      Es gibt sicherlich auch Menschen die graffiti, tags und throw ups grundsätzlich so sehr ablehnen, daß sie weder den Kunstaspekt, die Kreativität, das Handwerkliche Können oder die thypographischen Kenntnisse erkennen oder verstehen und alles über den Kamm der Reviermarkierung scheren.

      An solchen Kommentaren erkennt man übrigens auch die Laien, die keine Ahnung aber zu allem was zu sagen haben.



      Ich möchte übrigens auch keine "urbane Subkultur in Form von Musik oder Theater" an meiner eigenen Hauswand haben.



      Das ginge mir vermutlich viel mehr auf die Nerven als ein bisschen Farbe (lol)

      • @Peter Chiddem:

        "An solchen Kommentaren erkennt man übrigens auch die Laien, die keine Ahnung aber zu allem was zu sagen haben."



        Ich arbeite seit 30 Jahren in den Bereichen Kommunikation, Design und Illustration und behaupte von mir, eine ganz gute typographische und formalästhetische Kompetenz zu besitzen.



        Und nein, die mit fetten Markern oder Spraydosen in Öffis, an Laternen oder Hauswände geschmierten Tags sind kein Gestaltung und haben keinen gestalterischen Wert. Sie sind, wie gesagt, erbärmliche Reviermarkierungen armseliger Möchtegern-Kreativanarchos - so ähnlich als wenn ein Hund an eine Laterne pisst.

        "Ich möchte übrigens auch keine "urbane Subkultur in Form von Musik oder Theater" an meiner eigenen Hauswand haben."



        Aha, wie manifestiert sich denn Musik und Theater an der eigenen Hauswand???