„Meine Stunden mit Leo“ im Kino: Keine Spur von Bitterkeit
In der Komödie „Meine Stunden mit Leo“ von Regisseurin Sophie Hyde brilliert Emma Thompson als Witwe auf der Suche nach sexuellen Erfahrungen.
Dies hätte ein Film werden können, der sich schlicht in einen Trend einreiht. Ein Trend, der von gealterten Frauen erzählt, die im letzten Lebensdrittel noch mal nach dem großen Glück suchen. Meist wird in einem komödiantischen Ton von den irrwitzigen Situationen erzählt, in die sie sich dabei begeben.
Selbstermächtigend sollen Szenen wie jene aus dem 2019 erschienenen Film „Gloria Bell“ sein, in der sich Julianne Moore in der titelgebenden Hauptrolle einem Intimwaxing unterzieht, den Zwischenstand mit einem Handspiegel etwas misstrauisch beäugt und dann anweist, an den Seiten noch etwas zu stutzen. Das unterschwellige Gefühl, das Filme wie diese vermitteln, ist eine nicht zu leugnende Bitterkeit. Am Ende tanzt Gloria doch allein mit ihren Freundinnen, das Projekt „erfüllende Partnerschaft“ ist gescheitert.
Dass sich bei „Meine Stunden mit Leo“ von Sophie Hyde gar nicht erst der Eindruck einschleicht, ob eine eigentlich schmerzliche Niederlage „weg-empowert“ werden muss, liegt allein schon an der Protagonistin Nancy, die eigentlich anders heißt und ein ganz anderes Ziel verfolgt, als die große Liebe zu finden.
Nie wieder vortäuschen
Mit Feuereifer spielt Emma Thompson eine verwitwete, pensionierte Religionslehrerin, die während ihrer Ehe keine einzige befriedigende sexuelle Erfahrung gemacht hat. „Als mein Mann starb, habe ich mir geschworen, nie wieder vorzutäuschen“, bricht es bald aus ihr heraus, als sie Leo – einem jungen Sexarbeiter, der ebenfalls anders heißt – in einem Londoner Hotelzimmer gegenübersteht.
„Meine Stunden mit Leo“. Regie: Sophie Hyde. Mit Emma Thompson, Daryl McCormack u. a. Großbritannien 2022, 97 Min.
Zweckmäßig und routiniert sei der Beischlaf mit ihrem Ehemann gewesen, führt sie aus. Nicht einen einzigen Orgasmus habe sie in ihrem Leben gehabt. Auf einen solchen hoffe sie nun auch gar nicht, das wäre ein zu verwegener Wunsch. Aber eine Frau von Welt wolle sie sein, und dafür brauche es mehr sinnliche Erfahrungen als eine durchschnittliche Nonne sie vorweisen kann.
Auch das Drehbuch der britischen Komikerin Katy Brand zeichnet seine Protagonistin als quirlig-unbeholfene Frau in ihrem letzten Trimester, hat dabei aber mehr als deren individuelle Suche nach Erfüllung im Blick. Mit Daryl McCormack sieht sich Thompson einem charismatischen Spielpartner gegenüber, mit dem sie in klugen Wortwechseln das sich über die Generationen hinweg veränderte Verhältnis zu Sexualität und Selbstverwirklichung austariert.
Bemüht abgeklärt
Nancys bemüht abgeklärte Herangehensweise an die Treffen mit Leo speist sich aus einer tiefliegenden Scham, als Frau – zumal ihres Alters – überhaupt nach Erotik zu suchen, und damit aus einer Erziehung, die weibliche Lust mit etwas Sünd-, zumindest aber Lasterhaften gleichsetzte.
Leo hat als Endzwanziger eine pragmatischere, freiere Haltung zu Sexualität. Er betrachtet sie als Teil der Identität und plädiert dafür, dass sie viel leichter zur Verfügung gestellt werden sollte. Der Film der australischen Regisseurin Sophie Hyde geht dennoch nicht darüber hinweg, wie stigmatisiert sein Beruf weiterhin ist. Der Familie sage er, er arbeite auf einer Bohrinsel. Dass ihn seine Mutter längst verstoßen hat, kommt später ans Licht.
Das ebenso feinfühlige wie stellenweise überaus lustige Kammerspiel kreist damit auch um Fragen nach nicht aufgearbeiteter emotionaler Last. Dabei wagt der Film durchaus, die erstaunlich harmonische Beziehung zwischen seinen Protagonisten zu durchbrechen.
Enorme Empathie
Das kommt hauptsächlich durch Leos enorme Empathie für die Unsicherheiten seiner Kundin, seine nahezu unbeirrbare Intuition dafür, wie er auf sie zugehen muss, zustande. Zum Bruch führt Nancys Kontrollwahn, der sie zu Recherchen zu seiner Person treibt und damit eine professionelle Grenze überschreitet.
Dass sich am Ende alles zum Guten zu wenden scheint, kann man „Meine Stunden mit Leo“ als unnötige Konfliktscheu vorwerfen. Andererseits kommt es nur so zu einer Schlüsselszene, die wohl die stärkste im Film ist: Die über 60-jährige Protagonistin steht nackt vorm Spiegel, mustert ihren Körper und sieht wahrscheinlich erstmals in ihrem Leben mit einem Gefühl von Behaglichkeit auf sich selbst. Da ist keine Spur von Bitterkeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen