: Der Kongresskoloss
Für das 320 Meter lange und 80 Meter breite Internationale Congress Centrum wurden einst 125.000 Kubikmeter Stahlbeton verbaut. Doch das Haus macht Millionenverluste und ist asbestverseucht. Heute verkündet der Senat eine Vorentscheidung, ob er es abreißen oder teuer sanieren will
VON TINA HÜTTL
Silberglänzend und selbstbewusst thront das Internationale Congress Centrum (ICC) über dem Autobahndreieck Funkturm. Nichts an dem äußerlich intakten Raumschiff, das laut Pressetext zu den „größten, modernsten und erfolgreichsten Kongresshäusern der Welt“ zählt, lässt erahnen, dass über ihm die Abrissbirne schwebt. Noch ist sie nur eine Fiktion auf Papier, doch die Macht der bloßen Zahlen wird auf Berlins Politiker nicht ohne Wirkung bleiben.
Rund 216 Millionen Euro würden ein Umbau und die Sanierung der Technik im ICC kosten, errechnete ein vom Senat in Auftrag gegebenes Gutachten des Architektenbüros Gerkan, Marg und Partner (gmp). Ein Abriss des asbestbelasteten Gebäudes sei mit nur 30 Millionen wesentlich billiger und ließe noch genug Geld für einen Neubau, den gmp auf rund 60 Millionen Euro bezifferte. Öffentlich bestätigt hat der rot-rote Senat diese Zahlen nicht. Für seine heutige Sitzung kündigte er aber an, „auch auf Grundlage des Gutachtens“ eine Vorentscheidung über die Grundsatzfrage „Abreißen oder sanieren?“ zu fällen. Schließlich muss die Stadt den jährlichen Verlust des unrentablen Raumschiffs von 15 Millionen Euro aus ihrem Haushalt bezahlen. Betrieben wird das ICC von der Messe Berlin GmbH, einer landeseigenen Gesellschaft.
Wer sich einmal zwischen Kassenbereich und Kongresssaal in den nicht endenden Fluren des ICCs verirrt hat, dem wurde klar: Mit dem ICC hat sich die Stadt vor fast 30 Jahren einen Gigantismus geleistet, der heute überholt, ja beinahe auch pervers erscheint. Für rund 1 Milliarde Mark hatte das Architektenpaar Schüler 1979 das bis dato teuerste Gebäude in Deutschland auf das Autobahndreieck gesetzt. Neben der schieren Größe von 152.000 Quadratmetern Geschossfläche spiegelt sich dieser astronomische Preis auch in der luxuriösen Ausstattung wider: Jeder einzelne der 80 Tagungssäle ist mit einer fest eingebauten Technik ausgestattet; jeder der 5.000 Sitzplätze im größten Saal verfügt neben sämtlichen elektronischen Anschlüssen auch über ein eigenes Belüftungssystem. Kostenpunkt pro Stuhl bei der Anschaffung: 20.000 Mark. Und da in den Konferenzsälen kein Tageslicht stören sollte, brauchen sie nicht nur künstliches Licht, sondern auch Lüftung und je nach Jahreszeit Heizung oder Kühlung. Über zehn Kilometer Luftrohrleitungen wurden dafür im ICC montiert. Bei Mega-Kongressen gleiche der Energiebedarf dem einer mittleren Kleinstadt – so rühmte die Messegesellschaft das ICC zu dessen 25. Geburtstag.
„Unter den Folgekosten der teuren Architektur leiden wir noch heute“, sagt der Marketingchef des ICC, Wolfram Svoboda, heute. Seine Beispielrechnung ist einfach: Wenn er Saal 8 mit 140 Plätzen vermietet, erzielt er rund 1.000 Euro Mieteinnahmen. Damit die Leute aber zum Saal 8 gelangen, der vom Haupteingang gesehen genau am anderen Ende des ICC liegt, muss er auf über 300 Metern Licht, Lüftung und Heizung einschalten. „Das rechnet sich nicht“, sagt er. Nur bei Großkongressen ab 1.000 Teilnehmern stimme das Ertragsverhältnis. Das ICC ist für ihn ein „Relikt des Kalten Krieges“ und insofern auch eine Frage des politischen Statements: „Damals ist das Haus politisch gewollt worden. Heute muss die Politik entscheiden, ob sie das immer noch will“, sagt Svoboda.
Konkret heißt das: Der Senat muss sich fragen, ob er weiterhin für die horrenden Betriebs- und Instandhaltungskosten aufkommen will – ohne Aussicht auf Besserung, denn selbst bei bester Auslastung sei das Haus nicht wirtschaftlich zu betreiben, so Svoboda. Trotz 14 Millionen Euro Einnahmen pro Jahr macht es Verlust. Die Messegesellschaft stört das offensichtlich nicht. Sie will am ICC festhalten. Kein Wunder, so schlecht ist ihr Job als reiner Betreiber nicht: Die Rechnung bezahlt am Ende nicht sie, sondern die Stadt.
Schuld an der schlechten Rentabilität ist laut gmp-Gutachten vor allem das Missverhältnis zwischen Nutzungs- und Verkehrsfläche. Nur etwas über 10 Prozent der Gesamtfläche könne im ICC überhaupt vermietet werden. Beinahe 90 Prozent gingen dagegen für großzügige Foyers, Rolltreppen, Gänge und Garderoben drauf und erzielen damit keine Einnahmen. Svoboda bezweifelt dieses Flächennutzungsverhältnis. Die täglichen Erfahrung zeige vielmehr, dass bis zu 50 Prozent des Gebäudes vermietbar sind: Bei Kongressen würden Gänge und Foyers gerne von begleitenden Fachausstellern gebucht. Doch auch er räumt ein: „Wo wir Geld sparen können, ist das schon geschehen. Ohne grundlegende Sanierungs- und Umbauarbeiten lassen sich die laufenden Kosten jetzt nicht mehr reduzieren.“
Und die Einnahmen offensichtlich auch nicht steigern. Mit nahezu 75 Prozent gehöre das ICC zu den bestgebuchten Kongresshäusern der Welt, teilt Wolfgang Rogall, der Sprecher der Messe GmbH, mit. Mehr Auslastung sei nicht drin, da 75 Prozent im Kongressgeschäft quasi 100 Prozent entsprächen. „In den Sommerferien, an Weihnachten und Ostern ist in allen Häusern dieser Welt Flaute“, sagt er. Einen Abriss mag er sich nicht vorstellen. Wie auch? Schließlich seien bis zum Jahr 2014 bereits 250 Top-Veranstaltungen mit über 1 Million Teilnehmern aus aller Welt gebucht.
Auch seitens des Senats deuten die Zeichen eher auf eine Sanierung. Senatsbaudirektor Hans Stimmann (SPD) warnte bereits vor einem allzu leichtfertigen Abriss und plädierte dafür, durch „Weiter- oder Umbauten das Beste daraus zu machen“. Und auch der Arbeitskreis Wirtschaft der SPD sprach sich gegen eine Beseitigung aus. Christoph Lang, Sprecher von Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS), will heute „nüchtern das Für und Wider abwägen“. Bewährt hat sich in seinen Augen, dass das Kongresszentrum baulich dem Gelände der Messe angebunden ist. Für ihn ist klar: „Ein Neubau auf dem Gelände ist für null nicht zu haben.“
Vor allem nicht, wenn ein neues Haus die wirklich großen und teilnehmerstarken Kongresse in die Stadt holen soll, ergänzt ICC-Sprecher Rogall. Das Kongresszentrum habe in vielen Bereichen wie etwa der Medizin die Rolle eines „Weltmarktführers“. In der Tat, die Bilanz des ICC, die man auf der offiziellen Seite im Netz nachlesen kann, klingt äußerst eindrucksvoll – auch weil sie die finanzielle Seite ausklammert: Pro Tag finden 1,6 Veranstaltungen mit durchschnittlich 1.100 Teilnehmern im ICC statt. Im Jahr 2004 waren es über 580 nationale und internationale Kongresse mit 174.000 Teilnehmern. Allein die Ausgaben der Kongressteilnehmer, heißt es weiter im Text, brachten der Stadt einen Kaufkraftzuwachs von mehr als 100 Millionen Euro.
„Umwegrentabilität“ nennt Rogall das. Sie ist sein Lieblingsargument, wenn es darum geht, die negative Bilanz des ICC als Erfolg zu verkaufen. Wegen der Nähe zur Messe betrachtet er das Kongresszentrum als „Glücksfall für Berlin“. Zeitgemäße Messen wie die Grüne Woche, die Internationale Tourismusbörse (ITB) oder die Funkausstellung nutzten die Kombination von Ausstellung und Begleitkongress. Und er nennt noch eine andere Zahl: 1,2 Milliarden Euro spüle der von der gesamten Messe und dem ICC generierte Veranstaltungsbetrieb jedes Jahr in Berlins Kassen. Rund 20.000 Arbeitsplätze hingen in der Stadt davon ab.
Die Messegesellschaft wird nicht müde, diese Rechnung immer wieder aufzumachen – sie dürfte dabei als Adressaten vor allem die CDU im Blick haben. Auch wenn die Union in der aktuellen Debatte für den Erhalt des ICC eintritt: Die landeseigene Messe sähe die CDU lieber heute als morgen privatisiert. Solange Rot-Rot regiert, wird dies aber nicht passieren. 2003 hatte der Senat sich gegen einen Verkauf der Messegesellschaft ausgesprochen – und gleichzeitig der Messe-Geschäftsführung einen Rahmen gesteckt, wie die Wirtschaftlichkeit zu steigern sei.
Die versprochenen Gewinne seien ausgeblieben, konstatiert der parlamentarische Geschäftsführer der Berliner CDU-Fraktion, Uwe Götze. Ohne das prestigeträchtige ICC sei die ganze Messe vollständig ruiniert. „Die paar Hallen sind doch uninteressant“, sagt er. Aber auch eine Sanierung des ICC lehnt die CDU ab, falls sie unter öffentlicher Hand geschehe. Das sei ein Fass ohne Boden, so Götze. Abriss nein, Sanierung nein – für die CDU bleibt als Alternative also nur der Verkauf, der aber nicht zur Debatte steht.
Die Grünen bemängeln derweil, dass ihnen wichtige Informationen wie etwa das gmp-Gutachten vorenthalten werden. Weil das beauftragte Architektenbüro gmp aber auch das Tempodrom baute, bei dem die Baukosten explodiert waren, ist die wirtschaftspolitische Sprecherin Lisa Paus (Grüne) sehr skeptisch, was die Kosten für Abriss und Neubau angehen: „Ich halte die im Umlauf befindliche Zahl von weniger als 100 Millionen Euro für unrealistisch.“ Gleichzeitig sei ein Haus wie das ICC natürlich wegen seines hohen Energieverbrauchs eine umweltpolitische Katastrophe, so Paus.
Aber auch ein Abriss ist umweltpolitisch höchst fragwürdig, meint Marketingchef Svoboda. Ähnlich wie Paus kann er sich einen „Rückbau“ für einigermaßen vertretbare Kosten kaum vorstellen. Svoboda kennt sein Haus, die technischen Details könnte er wohl auch auch im Schlaf herunterbeten: Für das 320 Meter lange, 80 Meter breite und 40 Meter hohe Raumschiff wurden einst 125.000 Kubikmeter Stahlbeton verbaut, der erst einmal entsorgt werden müssten. Ganz zu schweigen von dem Asbest, der in Form von Platten gebunden ist. Doch auch was die Innenausstattung des ICC angeht, ist alles reine Schwergewichtsklasse: Allein die bestuhlte Tribühne im Saal 2 wiegt 800 Tonnen. Zum Vergleich: Der benachbarte Funkturm fällt mit schlappen 600 Tonnen ins Gewicht.
Und wie prophezeite der damalige Bundespräsident Walter Scheel schon bei der Eröffnung? „Dieses Kongresszentrum hat Chancen, hier noch zu stehen, wenn die Cheopspyramide schon längst verwittert ist.“ Es gibt gute Gründe, dass er Recht behält.
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