Studieren als Schülerin: Zwischen Schule und Uni
An ihrer Waldorfschule lernt unsere Autorin Kupfertreiben und Eurythmie, an der Uni besucht sie Makroöknomik-Kurse. Wie sich Studieren mit 16 anfühlt.
Auf die Idee, bei dem Programm „Studieren ab 16“ mitzumachen, hat mich mein Mathelehrer gebracht. Wahrscheinlich habe ich während seines Unterrichts wieder einmal äußerst gelangweilt geguckt. Zunächst war ich überaus skeptisch. Warum sollte jemand vor dem Hauptschulabschluss und mit den lückenhaften Mathegrundlagen der Waldorfschule auf die Idee kommen, sich für ein Schülerstudium anzumelden?
Doch schließlich war nicht ich, sondern mein Lehrer auf die Idee gekommen, also begann ich, über ein mögliches Modul nachzudenken. Die riesige Auswahl an Studienfächern, von Informatik über Astrophysik bis hin zu Zellbiologie und Philosophie, überforderte mich zunächst.
Morgens Schule, danach Uni
Schließlich meldete ich mich für Makroökonomik und eine Ringvorlesung zum Klimaschutz in Kooperation mit Fridays for Future an. Mit der Wahl von Makroökonomik versprach ich mir, politisches Handeln in Bezug auf Wirtschaft besser einordnen zu können. Die Ringvorlesung wählte ich aus Interesse an allen Themen rund um die Klimakrise.
Und damit begann mein Doppelleben: Zwischen 8 und 15 Uhr spielt sich mein Leben in der Schule ab. Vielfältigkeit und Individualität stehen hier im Vordergrund. In meinem Stundenplan finden sich Mathematik, Deutsch und Englisch, aber auch Fächer wie Kupfertreiben und Eurythmie.
Nach der Schule beginnt mein Zweitleben als Schülerstudentin. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad und fahre von Kreuzberg bis nach Charlottenburg, wo die TU angesiedelt ist. Von einem rot leuchtenden Schulgebäude mit einem Minimum an rechten Winkeln geht es in eines, bei dessen Erbauung die Anzahl an rechten Winkeln wohl die geringste Rolle spielte. Mit seinen acht übereinander liegenden schwarzen Fensterreihen, horizontal unterteilt von weißen Stahlplatten, erinnert der TU-Vorbau an einen überdimensionalen Lüftungsschacht. Hier besuche ich seit Beginn des Sommersemesters meine Vorlesungen. In Präsenz. Nur die erste Vorlesung fand Online statt.
Die größte Herausforderung für mich liegt darin, mit den zwei so unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten zu jonglieren. Anfangs erschien es mir unmöglich, mit dem Tempo an der Uni mitzuhalten. Ich fühlte mich wie im Sportunterricht. Keuchend versuchte ich, mit dem Rest mitzuhalten. Anders als beim Ausdauerlauf wurde ich an der Uni zu meiner Überraschung aber zunehmend schneller. Allerdings fällt es mir jetzt zunehmend schwerer, das deutlich langsamere Tempo in der Schule ohne große Frustration zu ertragen.
50 Unis bieten Junior- oder Frühstudium an
Die Möglichkeit für Schüler*innen, bereits vor dem Abitur den Universitätsalltag kennen zu lernen, ist nicht neu. An der Universität Köln mischen sich seit über 20 Jahren interessierte Jugendliche unter die Student*innen. Ausgerichtet ist das Programm auf im Schulunterricht unterforderte oder besonders neugierige Schüler*innen. Das mag vielleicht nach Hochbegabung klingen, laut der Studienberaterin ist ein Großteil der Teilnehmer*innen jedoch schlicht „durchschnittlich gut, nur überdurchschnittlich motiviert.“ Zusammen mit normalen Student*innen besuchen wir Schülerstudent*innen Vorlesungen, Tutorien und Seminare, wir erhalten sogar einen Bibliotheksausweis.
Inzwischen haben sich mehr als 50 Universitäten und Hochschulen dem Kölner Projekt angeschlossen und bieten ein sogenanntes Junior- oder Frühstudium an. Die TU-Berlin begann 2006 mit dem Projekt „Studieren ab 16“. Finanziert wurde es anfangs unter anderem von der Deutschen Telekom Stiftung. Nach Ende der Drittmittelfinanzierung entschied die TU, das Projekt fortzusetzen und aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Jedes Semester beschließen 80-100 Schüler*innen aus Berlin und dem nahegelegenen Umland, diese Chance wahrzunehmen. Der Projektleiterin Claudia Cifire zufolge befinden sich rund ein Drittel von ihnen bereits im 2. oder gar 3. Semester.
Wer will, kann sogar eine Prüfung absolvieren und damit bereits Leistungspunkte für ein späteres Studium sammeln. Hier gilt die sogenannte Freischussregelung: Eine nicht bestandene Prüfung wird nirgends vermerkt, eine bestandene kann zur Verkürzung des späteren Studiums beitragen. Tatsächlich schließen immer wieder Schüler*innen ihre gewählten Module mit Bestnoten ab.
Die naturwissenschaftlichen Kurse sind unter den Jugendlichen am beliebtesten, zunehmend aber auch Fächer im Bereich der Geisteswissenschaften. Bedauerlicherweise sind Informatik-Studentinnen immer noch eine Seltenheit, die Studienberaterinnen berichten allerdings, dass Fächer wie Mathematik relativ ausgeglichen besucht sind, in Chemie sogar die Mädchen eine Mehrheit darstellen. Zwei Mal im Jahr schreibt die TU alle Schulen in Berlin und Brandenburg, die zum Abitur führen, an, um auf das Angebot aufmerksam zu machen.
Ein Großteil von ihnen kommt aus Gymnasien, hin und wieder befinden sich auch Gesamtschüler*innen, Abendschüler*innen und gelegentlich auch mal ein/e Waldorfschüler*in unter den Teilnehmer*innen. Besonders stolz berichteten mir alle Koordinatorinnen von dem großen Anteil an jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund. „Da sind Jugendliche, die gerade einmal drei Jahre in Deutschland sind und bereits zu uns an die Uni kommen“, erzählt die Projektleiterin der Universität Hamburg voller Hochachtung.
Grundsätzlich unterscheiden sich die Juniorstudienangebote hauptsächlich in ihren Teilnahme-Voraussetzungen. An der Universität Tübingen beispielsweise sind ein aktuelles Zeugnis, ein Empfehlungsschreiben des Lehrers sowie ein Motivationsschreiben sowie das Einverständnis der Schule erforderlich. Für die Anmeldung an der TU ist lediglich das Einverständnis der Schule gefragt. Noten sehen sie hier nicht als validen Indikator für eine erfolgreiche Teilnahme am Schülerstudium. Informatiknerds sollen nicht aufgrund schlechter Noten in Geisteswissenschaften daran gehindert werden, ihren Interessen an der Universität nachzugehen. Mit meiner 10-jährigen Erfahrung als Waldorfschülerin kann ich dem nur zustimmen.
Meine erste Vorlesung beginnt. Der Zoomlink öffnet sich, mein Bildschirm verwandelt sich in ein Meer aus kleinen schwarzen Kacheln. Selbst nach zwei Jahren Online-Vorlesungen befinden sich die über 300 Student*innen plötzlich in zwei unterschiedlichen Zoom Meetings. Sobald die technischen Schwierigkeiten überwunden sind, geht es mit einer kurzen organisatorischen Besprechung los. Das Thema der heutigen Vorlesung ist die aktuelle wirtschaftliche Lage in Deutschland und dem Euroraum, vor allem aber die wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine.
Breiterer Blick auf Themen
Die nächsten 1,5 Stunden bestehen hauptsächlich darin, Graphen zu betrachten, deren Kurven fast synchron mit dem Anfang der Coronakrise einen erschreckenden Knick machen. Verstehen tu ich sicherlich nicht einmal die Hälfte, deshalb bin ich aber auch nicht hier. Ich bin hier, um etwas Neues zu lernen und demnächst auch gezackte Linien mit unheimlich viel Bedeutung zu zeichnen.
Heute kann ich dank der bisherigen Vorlesungen in Makroökonomik Begriffe wie Sparquote, Bruttoinlandsprodukt oder auch Inflationsrate in Zeitungsartikeln einordnen und teilweise sogar selbst berechnen. In der breit gefächerten Ringvorlesung zum Klimaschutz habe ich unter anderem über die Bedeutung von Geothermie, die Risiken der Kernenergie oder auch die Rolle des Journalismus in der Klimakrise gelernt. Insbesondere die Kombination aus Makroökonomik und den neusten Forschungsergebnissen im Bereich Klimaschutz macht mir komplexe Probleme begreiflicher.
Wem Schule nicht genügt und das spätere Studium verkürzen möchte oder einfach nur einen Einblick in das Student*innen Leben erlangen will, sollte die Chance eines Schülerstudiums unbedingt wahrnehmen. (Ich selber will damit auf jeden Fall weitermachen.) Auch wenn ich nächstes Semester aufgrund eines Auslandsaufenthaltes nicht weiter studieren kann, werde ich aber sicher nicht erst nach dem Abi wieder einen Hörsaal betreten.
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