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Referentenentwurf zur MigrationEine Chance zu bleiben

Die Ampel will gut integrierten Geduldeten eine Perspektive geben. Zudem soll die Abschiebehaft für Straf­tä­te­r*in­nen ausgeweitet werden.

BAMF-Außenstelle in Eisenhüttenstadt: Mehr Geduldete sollen eine Perspektive zum Bleiben erhalten Foto: Fritz Engel

Berlin taz | Nicht weniger als einen „Paradigmenwechsel“ in der Migra­tionspolitik hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag versprochen. Nun will die Ampel noch vor der Sommerpause das erste Gesetzespaket in dem Bereich auf den Weg bringen. Das erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag in der Bundespressekonferenz. Für gut integrierte Menschen ohne festen Aufenthaltstitel soll es Verbesserungen geben. Gleichzeitig soll die Möglichkeit der Abschiebehaft für nichtdeutsche Straf­tä­te­r*in­nen ausgeweitet werden.

Zentrales Element des Referentenentwurfs, der der taz vorliegt, ist das sogenannte Chancenaufenthaltsrecht: Gut integrierte Geduldete, die zum Stichtag 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland lebten, sollen für ein Jahr eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe bekommen. In dieser Zeit sollen sie die Möglichkeit bekommen, die Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen – darunter die Sicherung des Lebensunterhalts, Sprachkenntnisse und den Nachweis ihrer Identität.

Ende 2021 hätten über 100.000 Geduldete bereits länger als fünf Jahre in Deutschland gelebt, heißt es in dem Entwurf. Für sie reiht sich Duldung an Duldung, ein extrem prekärer Status. Nun soll den gut Integrierten unter ihnen „eine aufenthaltsrechtliche Perspektive eröffnet“ und die Zahl der Geduldeten dadurch „deutlich reduziert“ werden – was auch die Ausländerbehörden entlaste.

Ausweitung der Abschiebehaft

„Die Elemente Humanität und Ordnung bedingen einander“, heißt es im Referentenentwurf weiter. So soll parallel auch die im Koalitionsvertrag angekündigte „Rückführungsoffensive“ angegangen werden: Es soll künftig möglich sein, Straf­tä­te­r*in­nen für bis zu sechs Monate in Abschiebehaft zu nehmen. Eigentlich ist diese nur für maximal drei Monate zulässig, ein Abweichen davon ist bislang nur bei Personen möglich, von denen „eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht“.

Die Grünen-Migrationsexpertin und Bundestagsabgeordnete Filiz Polat begrüßte, dass Faeser mit dem Chancenaufenthaltsrecht nun ein „zentrales Vorhaben des Koalitionsvertrags“ auf den Weg bringe. Doch die Grünen, inzwischen Regierungspartei, kritisieren das Instrument der Abschiebehaft seit Langem. Wohl nicht zuletzt deshalb verwies Polat auf taz-Anfrage auf das nun anstehende parlamentarische Verfahren und merkte an: „Noch handelt es sich um einen Entwurf.“

„Keinesfalls braucht es die von der Ampel angekündigte ‚Rückführungsoffensive‘“, kritisierte sehr viel deutlicher Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Schon jetzt würden im Abschiebungsalltag „rechtsstaatliche und humanitäre Grundsätze massiv verletzt“ – etwa, wenn schwer kranke Menschen abgeschoben würden oder es zu Familientrennungen komme. „Hier besteht Handlungsbedarf, und es wundert mich schon, dass die angebliche Rechtsstaatspartei FDP dies nicht sehen will und die Grünen eine solche Politik mittragen.“

Aus der SPD-Basis kam Zustimmung für das Chancenaufenthaltsrecht – und die Forderung, über den Koalitionsvertrag hinauszugehen. Man müsse „die Gelegenheit nutzen, um die richtigen Schlüsse aus den positiven Erfahrungen beim Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine zu ziehen“, sagte Aziz Bozkurt, Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt in der SPD, und nannte Beispiele wie Statussicherheit, freie Wohnortwahl oder die unproblematische Arbeitsaufnahme. „Das nächste Migrationspaket muss neben dem wichtigen Chancenaufenthaltsrecht auch eine Gleichbehandlung aller Geflüchteten beinhalten“, so Bozkurt.

Auch Pro Asyl begrüßte den Entwurf zum Chancenaufenthaltsrecht. Dass parallel zu den Verbesserungen aber auch die Abschiebehaft ausgebaut werden solle, sei „wirklich enttäuschend“, sagte Wiebke Judith, rechtspolitische Referentin der Organisation. Von einer Ampel-Regierung habe man sich mehr erhofft. „Wir wissen aus der Praxis, dass schon jetzt etwa die Hälfte der angeordneten Fälle von Abschiebehaft rechtswidrig ist. Statt dieses rechtsstaatlich ohnehin schwierige Instrument auszubauen, wäre es höchste Zeit, davon endlich mehr Abstand zu nehmen.“

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