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Debatte um Förderschulen in Niedersachsen„Die Umsetzung läuft schleppend“

Der GEW-Vize Holger Westphal sieht mit Sorge auf die Wahl in Niedersachsen. CDU und FDP wollten den Wandel zur inklusiven Schule stoppen.

Gemeinsam oder getrennt beschult: Inklusion polarisiert den beginnenden Wahlkampf in Niedersachsen Foto: Maurizio Gambarini/dpa
Kaija Kutter
Interview von Kaija Kutter

taz: Herr Westphal, sind Sie als Förderschullehrer von der Inklusion überzeugt?

Holger Westphal: Ja. Ich bin seit 1997 im niedersächsischen Schuldienst und lernte seither Inklusion kennen. Ich weiß aus Erfahrung, dass der Unterricht in inklusiven Klassen für alle Schülerinnen und Schüler gewinnbringend ist. Das gemeinsame Lernen insgesamt kann den Lernerfolg aller Klassen wesentlich verbessern.

Nun will die FDP die Förderschulen Lernen erhalten. Was sagen Sie dazu?

Das bereitet uns in der GEW große Sorge. Denn die Umsetzung der Inklusion, immerhin ein Menschenrecht, läuft sehr, sehr schleppend. Hier in Niedersachsen kam es durch die Landesregierung zu einem Stillstand. Sie hätte mehr Ressourcen stellen müssen, um Inklusion wirklich gelingen zu lassen. Das Ganze jetzt wieder zurückzudrehen und zu sagen: Wir eröffnen wieder die Förderschulen Lernen und erhalten langfristig dieses Parallel-System, das zu viele Ressourcen bindet, ist falsch.

Was heißt Stillstand?

Für die Inklusion brauchen wir pädagogische Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen: also Erzieherinnen, Therapeutinnen, Sozialpädagoginnen. Und dieser Aufbau der multi-professionellen Teams wurde nahezu nicht in Angriff genommen. Es fehlte auch die Versorgung mit Lehrkräften, um die Klassen zu verkleinern und um als Tandem im „Team-Teaching“ zu unterrichten. Ganz häufig erleben wir sogar, dass Förderschul-Lehrkräfte andere vertreten müssen, weil sonst die gesamte Schule nicht mehr funktioniert.

Liegt das an der großen Koalition im Land?

GEW-Niedersachsen
Im Interview: 

Holger Westphal

50, ist seit 25 Jahren Förderschullehrer im niedersächsischen Schuldienst und Vize-Chef der GEW Niedersachsen.

Ja. CDU und SPD liegen bei Inklusion weit auseinander. Die SPD, die zuvor mit den Grünen viel dafür getan hat, wäre diesen Weg weitergegangen. Aber die Ziele der CDU in Bezug Inklusion liegen nahe bei der FDP. Und die würde gerne die „leistungshomogenen“ Gruppen im gegliederten Schulsystem erhalten. Dazu gehört, dass es eine Förderschule gibt, die alle aufnimmt, die scheinbar nicht mitkommen.

Welche Schüler sind das?

Schülerinnen und Schüler, die Probleme haben, den Lernstoff in der Zeit aufzunehmen, die der Durchschnitt einer Klasse dafür braucht. Es gibt verschiedenste Gründe, warum ihnen das nicht so gut gelingt: physiologische oder soziale. Manche kommen aus einem schwierigen Umfeld, oder sie haben eine leichte Entwicklungsverzögerung, was dazu führt, dass sie den Lernstoff manchmal über andere Kanäle besser wahrnehmen. Also einfach mehr Bewegung im Lern-Alltag brauchen und nicht acht Stunden sitzen können.

Warum sind homogene Gruppen nicht förderlich?

Alle Schüler sind in homogenen Gruppen schlecht aufgehoben, denn man lernt von der Vielfältigkeit. Und wenn zum Beispiel diese Schüler einen Ansporn erhalten oder auch andere Lernwege von Klassenkameraden beobachten, dann können sie häufig die Schwierigkeiten kompensieren. Ich erlebte noch nie Schüler, die nicht in einem Punkt auch eine absolute Stärke mitbringen. Auch die Wissenschaft kommt zu positiven Ergebnissen, nimmt man zum Beispiel die Untersuchung von Rolf Werning aus Hannover, der die Professur Inklusion inne hatte.

Ich erlebte noch nie Schüler, die nicht auch eine Stärke mitbringen

Wird Inklusion Thema im Niedersachsen-Wahlkampf?

Ich denke ja. Gemeinsame Beschulung versus gegliedertes Schulsystem – das ist ein Thema, das auch sehr polarisiert. CDU und FDP wollen Förderschulen erhalten. Nach den jüngsten Anträgen der FDP und dem, was CDU und FDP bisher äußern, zeigt sich deutlich, dass ihr Weg zur Inklusion über die Förderschule führt. Das heißt, die Kinder müssen erst richtig gut werden, damit sie dann auch in die Gesellschaft dürfen. Das ist die Manifestation eines stark gegliederten Schulsystems, in dem die Förderschule „Resterampe“ ist. Dabei gab es noch im Herbst im Landtag Konsens, sie auslaufen zu lassen. Den haben CDU und FDP verlassen.

Was sagen die anderen?

SPD und Grüne bekennen sich zur Inklusion, auch zum Aufbau multiprofessioneller Teams, und würden den Weg als Koalition weitergehen.

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2 Kommentare

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  • 4G
    47261 (Profil gelöscht)

    Inklusion ist ein Muss und gut für alle SchulerInnen. Gerade auch für GymnasiastInnen. Ich und viele Eltern von Kindern mit extra Förderbedarf haben dennoch ihre Kinder an irgendeinem Punkt lieber in einer Förderschule gesehen. Die IntegrationslehrerInnen wurden für Vertretung eingespannt, waren längerfristig krank und wurden nicht ersetzt. Ich erlebte sogar ein Team, das selbst beschloss, dass die Integrationslehrerin sich in der Zeit lieber um die Bedürfnisse der Mittelschichtseltern mit leistungsstarken Kindern kümmern solle, weil die Schule bei denen gut ankommen wollte. Letztlich werden SchülerInnen mit Förderbedarf an inklusiven Schulen auch sehr oft ausgegrenzt. Wegen Personalmangels und mangelnder Kompetenz das Problem zu erkennen werden da keine Strategien gegen entwickelt. Irgendwann sind dann viele an dem Punkt: Lieber in ne Förderschule abgeschoben werden als in einer "Klassengemeinschaft" AußenseiterIn zu sein.

  • "Sie hätte mehr Ressourcen stellen müssen, um Inklusion wirklich gelingen zu lassen."

    Das ist der springende Punkt. Skepsis gegen Inklusion ist nur angebracht, wenn sie halbherzig angegangen wird. Ohne genügende Mittel ist sie zum Scheitern verurteilt und schafft nur Frust für alle Beteiligten. Entweder ganz oder gar nicht!

    Aus dem Bekanntenkreis kenne ich leider zu viele Geschichten von Lehrern, die mit ihren Inklusionsschülern völlig alleine gelassen wurden. Das kann natürlich nicht funktionieren. Das ist Mangelverwaltung statt "Team-Teaching".