Kampf gegen Genderstereotype: „Der Girls' Day ist ein Puzzleteil“
Zum zehnten Mal verleihen die Berliner Grünen den Hatun-Sürücü-Preis für Verdienste in der Mädchenarbeit. Sie kooperieren dabei nun mit dem Girls' Day.
taz: Frau Haghanipour, der Girls' Day bietet jungen Frauen die Möglichkeit, männerdominierte Berufe besser kennenzulernen und will so gegen Chancenungleichheit in der Arbeitswelt vorgehen. Wo sehen Sie den Bezug zum Fall Hatun Sürücü?
Bahar Haghanipour: Hatun Sürücü war eine mutige Frau, die selbstbestimmt ihren Weg gegangen ist. Sie hat ihren Hauptschulabschluss nachgeholt und stand kurz vor der Gesellinenprüfung zur Elektroinstallateurin, als sie ermordet wurde. Das ist ein typischer “Männerberuf“ – was zeigt, dass sie selbstbestimmt ihre eigenen Entscheidungen getroffen hat. Auch der Girls' Day möchte junge Frauen ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen, entgegen von Geschlechterstereotypen. Zum zehnten Jubiläum des Hatun Sürücü-Preises haben wir überlegt, ob dieser Preis sich vielleicht verändern sollte und da sind wir schnell auf einen gemeinsamen Nenner gekommen: Empowerment.
Abgesehen von Elektroinstallateurin: welche Berufe sind denn Ihrer Meinung nach noch heute männerdominiert?
Vor allem Mathematik, Informatik und Technik, das belegen die Zahlen – und leider gibt es nur geringe Fortschritte. Das hängt eng zusammen mit Geschlechterstereotypen, die schon im Babybauch anfangen.
Schon im Babybauch?
Wir wissen aus Studien, dass schon Schwangere sich unterschiedlich verhalten. Je nachdem, ob sie Mädchen oder Jungen erwarten, spielen sie ihren Babys andere Musik vor. Das geht mit den Farben rosa und hellblau weiter und auch im Kindergarten werden Stereotype verstärkt.
Wie wirken sich diese Stereotype auf die Wahl des späteren Berufs aus?
Bahar Haghanipour, geboren 1984, ist Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses und Sprecherin der Grünen-Fraktion für Frauenpolitik und Gleichstellung
Bis zur Pubertät entwickeln Mädchen ein ähnliches Interesse an naturwissenschaftlichen Fächern wie Jungen. In der Pubertät jedoch, wenn die Identifikationsphase beginnt, gibt es auf einmal einen Bruch. Wenn die Mädchen merken, Naturwissenschaften gelten nicht als typisch weiblich, lässt das Interesse nach.
Und wie kann eine Initiative wie der Girls' Day dabei helfen, naturwissenschaftliche Berufe für Frauen mehr zu öffnen?
Der Girls' Day versucht das Interesse der Mädchen weiterhin aufrecht zu erhalten, zu bestärken und zu zeigen: Die Tür steht euch offen.
Es gibt seit 2011 auch den Boys' Day. Wie relevant ist dieser in der Arbeit für mehr Chancengleichheit?
Der Preis Am 7. Februar 2005 wurde Hatun Sürücü in Berlin von einem ihrer Brüder erschossen, ihr Tod sorgte als sogenannter Ehrenmord bundesweit für Schlagzeilen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Berlin rief 2013 ihr zu Ehren den Hatun-Sürücü-Preis ins Leben, eine Auszeichnung für Initiativen, die sich für mehr Selbstbestimmung und Bildungschancen für Frauen einsetzen. Am Freitag abend wrd er verliehen.
Das Jubiläum Ausgelobt sind drei Geldpreise im Wert zwischen 600 und 1.500 Euro an sowohl Organisationen als auch Einzelpersonen. 2022 jährt sich der Preis zum 10. Mal und wird zum Anlass des Jubiläums in der Woche des Girls’ Days verliehen. Den Girls' Day gibt es seit 2001. (taz)
Wir brauchen den Boys' Day genauso, denn Geschlechterstereotypen wirken natürlich nicht nur auf Mädchen, sondern gleichermaßen auf Jungen. Wenn sie merken, dass gewisse Berufe in ihrem Umfeld nicht als typisch männlich wahrgenommen werden, schreckt sie das ähnlich ab wie Mädchen. Auch der Boys' Day zeigt Jungen: Geht euren Weg, fernab von Geschlechterstereotypen.
Um auf den Hatun-Sürücü-Preis zurückzukommen: Auf welchen Initiativen liegt ihr Fokus?
Uns ist der intersektionale Ansatz wichtig, also dass die Projekte Mädchen mit unterschiedlichen Hintergründen erreichen. Wir wählen Initiativen und Bereiche, die einen großen gemeinsamen Nenner haben: Selbstbestimmt den eigenen Weg zu gehen und für diesen ermutigt zu werden. Das können auch ganz kleine Initiativen sein.
Der Mord an Hatun Sürücü ist bereits 17 Jahre her. Wo sehen Sie noch heute die Aktualität?
Tötungen an Frauen haben leider an Aktualität nicht verloren. Im Schnitt versucht jeden Tag ein Mann seine Partnerin oder Ex-Partnerin umzubringen. Das zeigt, wir haben ein gesamtgesellschaftliches Problem. Mir ist wichtig, dass wir das anerkennen und beim Namen nennen. Es geht um Femizide, sprich die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, und die gehen durch alle Gesellschaftsschichten.
Als wie akut schätzen Sie das Thema Femizide in der gesellschaftlichen Debatte ein?
Ganz sicher ist, dass Gewalt an Frauen und Mädchen während den Lockdowns zugenommen hat – und das ganz besonders in Berlin. Das ist tragisch, und da müssen wir versuchen Mädchen und Frauen so gut es geht vor Gewalt zu schützen.
Wie kann eine Initiative wie der Girls' Day gegen diese Gewaltstrukturen vorgehen?
Der Girls' Day versucht jungen Mädchen zu zeigen: Geht euren Weg, wir bieten euch eine Bühne. Aber der Girls' Day hat natürlich seine Grenzen, er findet nur einmal jährlich statt. Es ist gut, dass es dieses Angebot gibt, aber der Girls' Day ist nur ein Puzzleteil von vielen.
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