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10 Jahre nach dem Sürücü-MordEin Verbrechen und seine Folgen

Vor zehn Jahren wurde die Deutschkurdin Hatun Sürücü von ihrem Bruder ermordet. Diese Tat hat die Integrationsdebatte verändert.

Gedenken an Hatun Sürücü 2013 in Berlin. Bild: dpa

Die drei Schüsse, die vor zehn Jahren an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof fielen, hallen bis heute nach. Die 23-jährige Hatun Sürücü wurde dort am späten Abend des 7. Februar 2005 durch ihren jüngeren Bruder Ayhan ermordet. Ihr Name wurde dadurch zu einem Synonym für Zwangsehen und für Morde, die im Namen einer archaisch verstandenen Familienehre begangen werden.

In patriarchal geprägten Gesellschaften hängt die Ehre einer Familie vom rollenkonformen Verhalten ihrer Mitglieder ab. Vor allem über die Sexualität der Frauen, deren makelloses Ansehen außer Frage stehen muss, wird deshalb eifersüchtig gewacht. Besonders ausgeprägt findet sich diese Haltung noch heute am Mittelmeer, im Nahen Osten und in Asien – etwa im kurdisch geprägten Südosten der Türkei, aus dem die Familie Sürücü stammte. Manche Einwanderer haben diese Einstellungen in der Diaspora konserviert – oder sogar radikalisiert wie Ayhan Sürücü, der in Deutschland geboren wurde.

Dass ein ganzer „Familienrat“ beschließt, das Fehlverhalten einer weiblichen Angehörigen mit Mord zu ahnden und den jüngsten Bruder damit zu beauftragen, weil dieser die geringste Strafe zu befürchten hat, ist ein besonders krasses Muster. Dass es sich im Fall der Familie Sürücü so zugetragen hat, wie manche Medien damals spekulierten, ist aber eher unwahrscheinlich.

Bis heute ist ungeklärt, ob Ayhan Sürücü den Mord alleine geplant und begangen hat oder nicht. Der Bundesgerichtshof in Leipzig hielt seine beiden Brüder für mögliche Mittäter und kassierte das Urteil der Vorinstanz, die sie freigesprochen hatte. Beide haben sich in die Türkei abgesetzt. Die beeindruckende TV-Reportage der RBB-Journalisten Jo Goll und Matthias Deiß, die auch als Buch erschienen ist, lässt es aber plausibel erscheinen, dass der 17-jährige Ayhan auf eigene Faust gehandelt haben könnte.

Mit Gewalt die familiäre Ordnung verteidigen

Sein Bruder Mutlu, der in fundamentalistischen Kreisen verkehrte, dürfte zwar keinen guten Einfluss auf ihn ausgeübt haben. Doch Ayhan war in die Rolle des Quasi-Familienoberhaupts gerückt, weil seine älteren Brüder schon von zu Hause ausgezogen waren und sich sein Vater monatelang in der Türkei aufhielt. Gut möglich, dass er sich deshalb berufen fühlte, mit Gewalt für den Erhalt einer imaginären familiären Ordnung zu sorgen.

Der Mord hat die Familie zerstört. Der Vater starb 2007, die Geschwister haben sich in alle Winde zerstreut. Hatuns Sohn Can, der in der Tatnacht in ihrer Wohnung schlief, wuchs bei Pflegeeltern auf. Ayhan Sürücü hat im Sommer 2014 nach neuneinhalb Jahren seine Haftstrafe verbüßt und wurde in die Türkei abgeschoben.

Der Mord an Hatun Sürücü hat aber auch die Integrationsdebatte verändert. Manche sahen bis dahin über solche Taten hinweg, weil sie einer diskriminierten Minderheit nicht schaden wollten. Für andere war es eine Sache unter Ausländern, die ohnehin nicht so richtig zu Deutschland gehörten und sie folglich auch nichts anging.

Sogenannte Ehrenmorde hatte es in Deutschland zwar schon vorher gegeben. Doch die attraktive junge Frau, die sich von familiären Fesseln und einer arrangierten Ehe mit einem Cousin befreit hatte, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen, bot sich als Identifikationsfigur an, um auf das Drama anderer junger Frauen in einer ähnlichen Lage aufmerksam zu machen. Deshalb erfuhr ihr Fall so viel mediale Aufmerksamkeit wie kein anderes dieser Verbrechen zuvor.

Gängelung und Sozialkontrolle

Seitdem steht fest, dass auch „Ehrenmorde“ zu Deutschland gehören – und dass es eine Aufgabe dieser Gesellschaft ist, sie zu verhindern. Sie bilden auch nur die sichtbare Spitze des Eisbergs aus Gängelung, Erwartungen und Sozialkontrolle, die Mädchen und Frauen, aber auch jungen Männern aus Einwandererfamilien das Leben schwer machen. Die breite öffentliche Diskussion hat die Aufmerksamkeit auf das Problem gelenkt und viele junge Frauen aus Einwandererfamilien motiviert, Hilfs-angebote wahrzunehmen oder Frauenhäuser aufzusuchen.

Die Debatte nach dem Mord an Hatun Sürücü trug zeitweise aber auch hysterische Züge und rief dubiose Trittbrettfahrer auf den Plan. Die Publizistin Necla Kelek etwa profilierte sich mit der These, jede zweite Ehe unter Türken in Deutschland sei eine Zwangsehe – eine willkürlich aus der Luft gegriffene Zahl. Dadurch sahen sich aber viele Deutschtürken genötigt, diesen Verdacht von sich zu weisen. Unter medialem Tamtam wurde 2007 der Hilfsverein „Hatun und Can“ gegründet, um bedrohten muslimischen Frauen zu helfen, und Kelek wurde prominentes Mitglied. Drei Jahre später wurde der Vereinsgründer Udo D. verhaftet und wegen Spendenbetrugs zu mehrjähriger Haft verurteilt: Er hatte das Geld verjubelt. Nachdem er von Alice Schwarzer eine Spende über eine halbe Million erhalten hatte, war diese misstrauisch geworden.

Archaische Vorstellungen von Männlichkeit

Noch heute erfahren Mord und Totschlag in Migrantenfamilien eine größere mediale Aufmerksamkeit als Beziehungstaten unter Herkunftsdeutschen. Dass ein Bruder seine Schwester oder ein Vater seine volljährige Tochter umbringt, weil sie deren Lebensstile ablehnen, mutet in unserer heutigen Zeit archaisch an. Doch nicht jede Tragödie unter Einwanderern ist ein „Ehrenmord“, auch wenn traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit oder familiärer Druck dabei eine Rolle spielen. Die Debatte darüber vermittelt aber zuweilen den Eindruck, nur Deutsche hätten eine Psyche, während insbesondere muslimische Einwanderer lediglich als Gefangene ihre Kultur handeln könnten.

Hatun Sürücü aber ist unvergessen. An diesem Wochenende finden in Berlin zahlreiche Gedenkveranstaltungen für sie statt. Ein Fußballturnier, das die Frauen- und Mädchenabteilung des Kreuzberger Vereins Türkiyemspor initiiert hat, wurde nach ihr benannt, auch eine Brücke soll bald ihren Namen tragen.

Zahlreiche Aufklärungskampagnen und Initiativen setzen sich dafür ein, traditionelle Geschlechterrollen unter Einwandererkindern infrage zu stellen. Und die Kriminologin Julia Kasselt kam in einer Untersuchung über „Ehrenmorde“ 2014 zu dem Schluss, dass diese von deutschen Gerichten eher härter bestraft werden als andere Tötungsdelikte. Die deutsche Gesellschaft hat aus dem Mord an Hatun Sürücü viel gelernt.

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11 Kommentare

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  • 5G
    5393 (Profil gelöscht)

    Daniel Bax macht hier wiede einen Fehler, die Ehrenmorde haben mit dem Islam nichts zu tun und kommen nicht aus dem Islam, den gibt es erst seit dem Jahr 609 (wenn man den ersten Moment als Anfang nimmt), diese Ehrenmorde gehen viel weiter zurück und werden vom Islam verurteilt.

     

    Gängelung und Sozialkontrolle gibt es auch im Westen, NSA etc. Familie und Religion spielen kaum mehr eine Rolle, es trifft jeden - es sind längst festgestellt eben keine Überwachungsgesellschaften mehr im Westen, sondern Kontrollgesellschaften, war schon 1990 bei Deleuze zu lesen unter Würdigung von Foucaults Vorarbeit. Deleuze hatte anlytisch damals schon recht (auch wenn Internetaktivisten das immer noch nicht kapieren und von Überwachung reden).

     

    Der Täter hat seine Schwester kontrolliert und das lernen die schon im Alter von sechs Jahren, insofern es um entsprechenden Hintergrund handelt. Die werden ab sechs Jahren dazu erzogen, ihre Schwestern zu kontrollieren, es passiert de facto bereits in dem Alter, wenn keine anderen Einflüsse das stoppen. Man muss bereits da ansetzen. Die dürfen ihre Schwestern auch da schon bestrafen und benötigen dazu keine Einwilligung des Vaters. Die Strafemaße sind festgelegt, in dem Alter sind die Strafen entsprechend kleiner.

     

    Es handelt sich um eine bereits gelegte Struktur. Weder der Text hier, noch die Gerichte berücksichtigen das tatsächlich.

     

    Der Unterschied zur NSA besteht nur darin, dass dort keine evidenten Sanktionen bestehen, die sind aber da und das immanent.

    • @5393 (Profil gelöscht):

      Guter Hinweis, denn die Kontrollgesellschaften(Danke, Deleuze!) sind in vollem Gange. In der WELT versucht man zeitgleich, den Unterschied zwischen Nutten und arbeitslosen Schauspielerinnen anlässlich der Berlinale zu bestimmen. Zur Kontrolle des Verhaltens muss man daher die intelligible Kontrolle durch Sozialkategorien hinzu nehmen. Erst wenn die (junge) Frau ihr Selbstbild mit sämtlichen Kontroll-/Definitions-Instanzen abgestimmt hat, darf sie sich als "frei" betrachten. Ihre Sexualität muss sie mit positiven und negativen Attributen erforschen, um sich in einem Normalbereich zu etablieren. Der relativ flexible westliche Rahmen täuscht absichtlich darüber hinweg, dass es sich um einen Normalisierungs- und Normierungsprozess handelt. Bist Du eine Nutte, heißt nichts anderes als: Hast du Dich mit den gängigen Sozialkategorien gründlich auseinander gesetzt?! Es heißt nicht: Bist du eine freie Nutte?!

  • Hach, wie modern und moralisch überlegen ist doch diese deutsche Gesellschaft, wo ledige Jungmütter ihre Babys in die Mülltonne klatschen, weil niemand was erfahren darf.

     

    Der Deutsche ist und bleibt der Mercedes unter den Völkern.

    • @Dudel Karl:

      Den "Mercedes" erledigen Sie Topexponent ja offenkundig selbst!

       

      Zumindest relativieren können Sie so gut wie vor 80 Jahren üblich!

      • @KarlM:

        Wie meinen?

         

        10 Millionen wehrlose Menschen wurden von Nazis ermordet. Das kann man weder relativieren noch entschuldigen.

  • Die Ehre der Familie liegt zwischen den Beinen der Tochter....

    Und das in Europa im 21.jahrhundert.

  • In Schweden oder England wird der weibliche geschlechtsreife Nachwuchs (wenn möglich) außer Landes geschafft. Wenn überhaupt passieren die Greueltaten dann in den Herkunftsländern. Anstelle von "Integration" könnte man das Modell "Deportation" nennen. Daran wird immerhin deutlich, was der Grund für die Spannungen in den Familien sein könnte.

    Die Ehre?!

    Nein, da muss man schon ein bisschen tiefer graben, tiefer als in Deutschland üblich, wo man die Gründe in den luftigen Höhen der Werte vermutet. Wo sie nicht zu finden sind.

    • @die kalte Sophie:

      Und wo sind sie zu finden? In den Abgründen der Rassengenetik?

      • @Dudel Karl:

        Nöö, bisschen realistisch muss es schon zugehen. Ich glaube, mit den richtigen Thesen aus Anthropologie, Mikrosoziologie, Sozialpsychologie und Kulturhermeneutik ist das Verhalten lückenlos erklärbar. So lückenlos, dass ihre Billigmoral gar keinen Platz mehr hat.

        • @die kalte Sophie:

          Und die richtigen Thesen wären dann jene, die Ihnen in den Kram passen, ja?

          • @Dudel Karl:

            Alternative wäre, so viele disparate Thesen aufzubringen, bis man als "komplexer Denker" gilt, der seine Neutralität aus der Fragmentarität des eigenen Diskurses ableitet.

            Ein Gefäß der Vernunft, mit viel viel Einlage...