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Gedenken zum Tag der BefreiungBlau-gelbe Socken und rote Fahnen

Tausende Menschen demonstrierten am 77. Jahrestag im Gedenken an die Opfer des 2. Weltkrieges und in Solidarität mit der Ukraine.

Polizisten wickeln eine große ukrainische Flagge im Berliner Tiergarten zusammen Foto: Christophe Gateau/dpa

Berlin taz | So angespannt war die Atmosphäre am 8. Mai in Berlin lange nicht. Am Sowjetischen Ehrenmal im Berliner Tiergarten legten anlässlich des 77. Jahrestags zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur Po­li­ti­ke­r*in­nen Kränze nieder, es wurde auch demonstriert.

Neben den Blumen am Denkmal dominierte die ukrainische Flagge, die einige Di­plo­ma­t*in­nen über den Schultern trugen. Gegenüber demonstrierten währenddessen Hunderte Menschen, die von der Polizei immer wieder aufgefordert wurden, ihre Flaggen zu verstauen. Ausgenommen vom Verbot, die ukrainische, sowjetische und russische Fahne zu zeigen, waren am 8. und 9. Mai an 15 Gedenkorten Berlins nur das diplomatische Korps und die Veteranen des Zweiten Weltkrieges.

Im Berliner Tiergarten stieg die Spannung derweil besonders, als der ukrainische Botschafter Andrei Melnyk den Gedenkort verließ. „Melnyk raus!“, schrie ein Teil der Demonstrant*innen, „Slawa Ukraini!“, („Ruhm der Ukraine“) die anderen. Die Polizei trennte die De­mons­tran­t*in­nen sodann voneinander. Während der etwa zweistündigen Kundgebungen heizte sich sich die Stimmung unter den De­mons­tran­t*in­nen weiter auf. Die pro-ukrainischen Protestierenden riefen, dass die Gebiete Donezk und Luhansk ukrainisch bleiben sollten. Sie sangen die ukrainische Hymne. Da man keine Nationalflagge hissen durfte, hatten sich viele Teil­neh­me­r*in­nen gelbe Pullover und blaue Socken oder Hosen angezogen.

Ein paar Meter weiter zeigten ein paar Leute eine rote Fahne, die an die Rote Armee erinnern sollte. Sie bezichneten sich als Antifaschisten. „Sogar das Singen auf Russisch wurde uns untersagt“, beklagte sich eine Frau. „Du kannst morgen auf Russisch singen: Heute ist der Tag der Kapitulation, nicht des Sieges“, widersprach ein anderer Mann. Eine der „roten“ Ak­ti­vis­t*in­nen beschwerte sich über die zahlreichen ukrainischen Flaggen am Kriegsgedenkort: „Russland wird als eindeutiger Feind ausgemacht, ohne im Interesse des Friedens zu handeln. Der Konflikt wird so noch angeheizt.“

Vom Kriegsgedenken zur Kriegspropaganda

Der grüne Agrarminister, Cem Özdemir, und der Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert, besuchten das Ehrenmal ebenfalls. Ob sich derart viele Po­li­ti­ke­r*in­nen vor dem Krieg auf die Ukraine am 8. Mai an den sowjetischen Gedenkorten versammelt hätten – das fragten sich an diesem Tag viele. Am 77. Jahrestag ging es aber nicht nur um das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, sondern auch um den Krieg in der Ukraine.

Ein pro-ukrainischer Demonstrant, der das Symbol des Regiments Asow auf dem T-Shirt trug, wurde darauf angesprochen. Rasch verteidigte er sich: „Ich bin kein Nazi, sondern ein stolzer Patriot meines Staats.“ Die Situation zeigt: Längst ist der Jahrestag zum Streitpunkt der nationalistischen Flaggen und Symbole geworden. Einige Menschen trugen T-Shirts mit kubanischen Flaggen und mit Referenzen auf die Internationale Brigade. Fast jeder fand einen Weg, um Stellung zum derzeitigen Angriff auf die Ukraine zu beziehen.

Auch einige Russinnen des Vereins „Russians for Ukrai­ne“, die gegen Putins Politik sind, hatten einen Stand neben den Demonstrationen aufgebaut. Am Montag, wenn die russischen Vertre­te­r*in­nen die Kränze niederlegen, werden sie vor Ort sein. Der Verein entstand vor einem Jahr, lange vor dem laufenden Krieg, und möchte an die ursprüngliche Bedeutung des 8./9. Mai erinnern: „Befreiung, Kriegsende, nicht nur Sieg“, so Natascha, eine der Vereinsvertreterinnen. Sie bedauerte, dass der Tag seit Jahren „von Putin massiv missbraucht wird“. Nämlich vom Kriegsgedenken zur Kriegspropaganda. „Der Ukrainekrieg ist nicht der erste Krieg, den Putin führt.“ Anstatt einer Flagge trug sie ­einen Aufkleber: „Demokratie-я“, ein Wortspiel für das russische „Ich“ und das deutsche „Ja“.

Auch in anderen deutschen Städten fanden am Sonntag sowohl pro-ukrainische als auch pro-russische Gedenkveranstaltungen und Kundgebungen statt. Besonders zahlreich war die Beteiligung in Köln bei drei Demonstrationen: „Solidarität mit der Ukraine“ (10.000 Teilnehmer), „Erinnerung an die Opfer des Krieges“ (ein Autokorso mit 300 Autos zu einer Gedenkstätte für russische Zwangsarbeiter aus dem Zweiten Weltkrieg) und „Gedenktag der Opfer des Zweiten Weltkriegs“ (ein Motorradkorso mit 150 Bikern). (mit dpa)

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