Eine Stadt und ihre Stele

Gebaut, versteckt und wiederentdeckt: Ein neues Buch wirft einen detailreichen Blick auf das wohl erste Mahnmal für NS-Opfer in Nordeuropa – es steht in Itzehoe

Einweihung im September 1946: Der ehrenamtliche Landrat Carl Stein aus Itzehoe spricht Foto: Archiv Kreis Steinburg/Stadt Itzehoe

Von Esther Geißlinger

Was verbindet den Heinz-Rühmann-Film „Der Hauptmann von Köpenick“ und das Hamburger Chilehaus? Die Köpfe hinter beidem, der Filmproduzent Gyula Trebitsch und der Architekt Fritz Höger, arbeiteten für ein besonderes Projekt zusammen: Der NS-Überlebende Trebitsch war Initiator des wohl ersten Mahnmals für die Opfer des Nationalsozialismus in Nordeuropa, der NS-Parteigänger Höger entwarf dann die Klinkerstele, die im Schleswig-Holsteinischen Itzehoe steht – wieder. Denn das 1946 eingeweihte Mahnmal wurde versteckt, vergessen und erst Jahre später wiederentdeckt. In einem detailreichen Buch schildert der Journalist Michael Legband diese Geschichte – und damit auch die der Gedenkkultur in (West-)Deutschland.

Es gab Lieder vom Arbeitergesangsverein, Reden wurden gehalten, Kränze niedergelegt, die Wochenschau-Sendung „Welt im Film“ berichtete: Als das Mahnmal am 8. September 1946 an einem zentralen Platz in Itzehoe eingeweiht wurde, war die Kleinstadt damit „ihrer Zeit weit voraus“, so Legband in seinem Buch. Weitere frühe Mahnmale finden sich in Polen, Belarus und den Niederlanden; auch Ländern also, die besonders unter dem Krieg und der Besatzung gelitten hatten. In Deutschland wurden nach Legbands Recherchen zwar zuvor einige Kreuze oder Steine auf Friedhöfen aufgestellt, doch kein Mahnmal im öffentlichen Raum.

Städtchen als Avantgarde

Dass es in Itzehoe dazu kam, lag an Gyula Trebitsch. Der ungarische Jude hatte Zwangsarbeit, KZ und Todesmarsch überlebt, nach der Befreiung durch die Amerikaner kam er ins Itzehoer Krankenhaus und blieb eine Weile in der Stadt, in der er zwei Kinos betrieb, sich mit anderen NS-Verfolgten zusammentat und der Jüdischen Gemeinschaft vorstand – ein Foto im Buch zeigt ihn als jungen Mann, flott mit Bärtchen und schief aufgesetztem Hut. Bereits 1945 ergriff er die Initiative für das Mahnmal, das eingeweiht wurde, bevor Trebitsch selbst nach Hamburg ging. Dort gründete er eine Produktionsfirma, mit der er die deutsche und europäische Filmgeschichte mitprägte. Hoch geehrt starb er 2005 mit 91 Jahren.

Als Architekten des Mahnmals gewann er Johann Friedrich „Fritz“ Höger. Eine ungewöhnliche Zusammenarbeit: Der „Klinkertitan“ war Mitglied der NSDAP gewesen, hatte öffentlich gegen das „nicht Deutschblütige“ in der Architektur gewettert. Aber zu Högers Pech gefiel Hitler sein Stil nicht, bei Führerbauten erhielt der ehrgeizige Bauernsohn keine Aufträge. Auch einen Lehrauftrag als Professor für Baukunst in Bremen verlor er wieder. In den 1940er-Jahren nannte Höger sich selbst einen Oppositionellen, meinte damit aber vor allem einen „Feldzug gegen Marmor und Neoklassizismus“. Trebitsch aber gefiel Högers Chilehaus, und Höger sah die Zusammenarbeit als späte Wiedergutmachung. Die britischen Behörden genehmigten den Bau, örtliche Firmen spendeten Material und Arbeitskräfte.

Einige Jahre lang fanden regelmäßige Gedenkfeiern am Mahnmal statt, doch 1957, in den vergesslichen Wirtschaftswunderzeiten, beschloss der Itzehoer Magistrat seine Umsetzung – weg von dem zentralen Platz, hinein in eine Baumgruppe im Stadtpark, der vormals „Adolf-Hitler-Park“ hieß. Offizieller Grund waren Baumaßnahmen, aber „es war auf jeden Fall ein kollektives Verstecken“, so Legband.

Das Mahnmal stelle für ihn ein „Lebensthema“ dar, schreibt er. Schon als Kind besuchte er das „für mich unerklärliche Bauwerk“ in einem Winkel des Parks. In den 1980ern nahm er Kontakt zu Gyula Trebitsch auf, der dadurch erst erfuhr, dass das Mahnmal nicht mehr am alten Platz stand. Legband selbst setzte sich mit anderen dafür ein, es zurück zu versetzen.

Diese persönliche Verstrickung ist Stärke und Schwäche des 410 Seiten dicken Buches. Stärke, weil Legband in die Tiefe gehen kann, mit früher geführten Interviews, Dokumenten und Reden: Sogar der Kameramann, der 1946 im Einsatz war, kommt zu Wort. Doch diese Detailverliebtheit, so spannend sie für die lokalen Le­se­r*in­nen ist, kann für Interessierte jenseits der Kreisgrenzen auch mal zu viel des Guten sein.

Das großformatige Buch enthält neben der Geschichte des Mahnmals Porträts der Macher, Fotoserien und Radierungen von Künstlern wie Erhard Göttlicher und Jens Strutz. Fachleute wie der Historiker Uwe Danker steuern Aufsätze zu NS-Tätern und früher in Itzehoe lebenden jüdischen Familien bei, es gibt einen Rückblick auf die 50er-Jahre in Itzehoe, Schüler schildern heutige Erinnerungsprojekte.

„Fehler korrigiert“

1995 weihte die damalige Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) das Denkmal am alten Standort erneut ein: „Die Stadt korrigiert einen Fehler“, sagte sie. Bis heute finden an der Klinkerstele regelmäßig Gedenkfeiern statt, immer wieder überschattet durch das Erstarken neurechter Gruppen, die Störaktionen während Veranstaltungen versuchten. Symbolisch gewann das Mahnmal an Bedeutung: Festredner waren 2019 und 2020 der Landtagspräsident respektive und der Ministerpräsident.

Michael Legband: Das Mahnmal – 75 Jahre gegen das Vergessen. Vom Umgang mit dem Nationalsozialismus in Itzehoe. Ludwig Verlag, Kiel 2022, 416 S., 34,90 Euro