Kiew bleibt Putins Ziel: Die Wut wächst
In den vergangenen Tagen ist es in Kiew ruhiger geworden, doch die Bedrohung ist nicht vorbei. Die Menschen bereiten sich auf die große Schlacht vor.
Die Einnahme von Kiew ist schon lange das erklärte Ziel des Kreml. Doch die „Spezialoperation“ gestaltet sich schwierig. Dabei geht es nicht nur um den militärischen Aspekt, sondern vor allem um den moralischen. Die lebendige Metropole, die Kiew immer war, ist leise geworden, obwohl noch immer über zwei Millionen Kiewer*innen geblieben sind. Zum größten Teil sind dies Menschen, die die Hauptstadt der Ukraine bewusst nicht verlassen und nicht vor der Gefahr davonlaufen wollen. „Das ist unser Zuhause und wir werden es verteidigen. Wer, wenn nicht wir“, sagen alle, wie aus einem Munde.
Die Eroberung Kiews scheint daher eher einem Suizid zu ähneln. Männer, Frauen, Jugendliche und Rentner*innen – sie alle versuchen, die Truppen der Territorialverteidigung in Kiew so gut es geht zu unterstützen.
Der 16-jährige Aleksei steht vor einem Sandhaufen. In der Hand hält er eine Schaufel, zu seinen Füßen liegen Säcke, wie man sie von Baustellen kennt. Er kommt jeden Tag zu dieser Barrikade und tut alles, worum man ihn bittet. Heute lautet der Auftrag: Säcke mit Sand befüllen, um den Checkpoint zu verstärken.
„Zur Zeit finden im College keine Kurse statt und der Armee kann ich mich nicht anschließen. Deshalb tue ich alles, was ich kann. Jetzt helfe ich dabei, die Verteidigung meiner Region zu verstärken. Wir sind doch hier zu Hause und die Russen haben hier nichts zu suchen. Deshalb werden wir sie von unserem Boden vertreiben“, sagt der Teenager. Er klingt dabei wie ein Erwachsener.
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In der Verteidigungseinheit dient auch der 38-jährige Andrei Dudikow. Noch vor drei Wochen arbeitete er als Anwalt und unterrichtete in einer der juristischen Akademien von Kiew. Heute steht er hier am Checkpoint – mit Skianzug, kugelsicherer Weste, Helm und einem Maschinengewehr in der Hand. Frau und Kind habe er an einen sicheren Ort zu Verwandten geschickt, er selbst sei jedoch geblieben, um sein Haus zu verteidigen. „Viele meiner Kollegen machen das genauso wie ich. Russland hatte keinen berechtigten Grund, um uns anzugreifen. Jetzt hat es nicht die geringste Chance, diesen Krieg zu gewinnen“, gibt sich Andrei Dudikow überzeugt.
Angriffe auf Zivilist*innen
In seiner Division hat praktisch fast niemand Kriegserfahrung. Nur der 47-jährige Wjatscheslaw hat bereits im Donbass gekämpft. Jetzt ist er erneut gezwungen, eine Waffe in die Hand zu nehmen. „Was hätte ich denn sonst tun sollen?“, fragt der Mann, dem seine Entschlossenheit anzusehen ist. „Die Jungs hier wissen doch gar nicht, wie man Verteidigungslinien aufbaut. Die haben wahrscheinlich das letzte Mal während ihres Wehrdienstes eine Waffe angefasst. Meine Kenntnisse und Erfahrungen kommen allen zugute. Nach einer Woche Vorbereitung fühlen sie sich jetzt viel sicherer. Schade ist nur, dass ich das tun muss, weil meine Heimat bedroht ist“, sagt er.
Die Männer in der Division berichten, dass sie mit allem Notwendigen von Freiwilligen versorgt werden. Die würden Sand herbeischaffen oder aus Metall Panzerabwehranlagen bauen, andere transportierten Blöcke aus Beton. Jäger stellten ihre Uniformen zur Verfügung, Kletterer ihre Walkie-Talkies. Bewohner*innen der Nachbarhäuser sammelten Glasflaschen und Stofffetzen, um daraus Molotowcocktails zu bauen. „Schauen Sie genau hin, alle geben ihr Bestes“, sagt Wjatscheslaw und lächelt. Dann wird er ernst: „Dieser Krieg geht alle etwas an.“
In der Tat: In der vergangenen Woche richteten sich die Angriffe der russischen Armee in Kiew meist gegen zivile Objekte. Vor allem mehrgeschossige Wohnhäuser von Zivilist*innen waren betroffen. Dabei bot sich ein chaotisches Bild. Mehrfamilienhäuser in verschiedenen Regionen der Stadt wurden gleichzeitig angegriffen und getroffen. Das bedeutet, dass jetzt jeder Stadtteil Kiews potenziell in Gefahr ist. Eine Explosion traf auch eine U-Bahn-Station, die Hunderten Kiewer*innen als Luftschutzbunker gedient hatte.
In der Regel finden diese Raketenangriffe im Morgengrauen statt – zwischen vier und fünf Uhr. Immer dann, wenn die Menschen am wenigsten darauf vorbereitet sind. Die größte Bedrohung geht von Granaten und Marschflugkörpern aus. Selbst wenn die Luftabwehrsysteme in der Lage sind, Raketen abzuschießen – vor Artilleriegeschossen gibt es keine Entkommen.
Obwohl Kiew bereits in den ersten Minuten der russischen Invasion Ziel von Angriffen wurde, blieben Wohnhäuser in den ersten zwei Wochen relativ verschont. Am 14. März jedoch änderte sich die Situation dramatisch. Ein tödliches Geschoss traf ein neunstöckiges Haus im Nordwesten von Kiew. Zwei Aufgänge wurden vollständig zerstört, die Fenster flogen sogar bis in die Nachbarhäuser.
In der Nähe gibt es keine wichtigen militärischen oder strategischen Objekte, lediglich eine Schule, ein Stadion und Dutzende mehrstöckige Wohnhäuser.
Nur wenige Stunden später wiederholte sich dieses Szenario, nur in einem anderen Stadtteil. Am nächsten Morgen wurde ein weiteres Wohnhaus getroffen. Das Ergebnis dieser Angriffe: Rund zehn Zivilist*innen starben und über 100 wurden verletzt. Und die, die ihre Wohnung sowie ihr ganzes Hab und Gut verloren, sind gar nicht zu zählen.
Swetlana Petrowna, Kiewerin
Bei vielen Menschen in Kiew ist der Eindruck entstanden, dass sich die russische Armee rächen will: für die Bodenoffensive in Form eines Blitzkrieges sowie die Einnahme von Kiew, die beide gescheitert sind.
Ein weiteres Ziel könnte auch noch der Versuch sein, die Bevölkerung zu demoralisieren, sowie Angst und Verzweiflung zu schüren. Aber dieses Vorgehen hat genau den gegenteiligen Effekt – bei Männern genauso wie bei Frauen: Es ist Wut entstanden, die unaufhörlich wächst.
„Jetzt bin ich endgültig bereit, mich den Truppen der Territorialverwaltung anzuschließen. Ich hoffe, dass sie mich nehmen“, sagt ein alter Mann, der neben einem zerstörten Wohnhaus steht. Seine Wohnung ist komplett ausgebrannt. „Ich werde bis zum letzten Atemzug kämpfen – solange, bis wir sie von unserer Erde vertrieben haben. Warum sind sie nur hierher gekommen, diese Narren“, schimpft er.
Die Stadt hielt den Atem an
Auch Swetlana Petrowna hat gemischte Gefühle. Von ihrem Haus sind nur noch Trümmer übrig geblieben. Sie wischt sich die Tränen ab und erzählt, was sie alles verloren habe. Dann wird sie emotional: „Wir werden alles wieder aufbauen. Und zwar noch besser. Diejenigen, die in unser Land gekommen sind und uns so viel Kummer und Leid gebracht haben, sie sollen auf ewig verflucht sein! Gib unseren Verteidigern Kraft, um diese Horde zu besiegen!“
Nach zwei Wochen brutaler Angriffe auf Wohnhäuser und schwerer Kämpfe am Stadtrand von Kiew hat die Stadtverwaltung beschlossen, für anderthalb Tage eine Ausgangssperre zu verhängen. Niemand durfte sein Haus oder seinen Unterschlupf verlassen. Der öffentliche Nahverkehr ruhte, Geschäfte, Apotheken und andere Objekte der Infrastruktur waren geschlossen. Die Stadt hielt den Atem an.
Später wurde bekannt, dass in dieser Zeit Streitkräfte, Geheimdienste, Polizei und Territorialverteidigung eine spezielle Operation zur Identifizierung von Sabotagegruppen (russische Militärs, die undercover unterwegs sind; Anm. d. Red.) durchgeführt hatten. Informationen des ukrainischen Verteidigungsministeriums zufolge sollten vor allem Saboteure eine entscheidende Rolle bei der Einnahme Kiews spielen.
Nach dieser Version warten Hunderte Personen in konspirativen Wohnungen auf den richtigen Moment. Ihre Hauptaufgabe: Als Freiwillige in die Einheiten der Territorialverteidigung in Kiew einzusickern mit dem Ziel, die Hauptverteidigungsanlagen zu untergraben, um so den vorrückenden russische Truppen den Weg zu ebnen.
Nach dem Ende der Sperrstunde vermeldeten die Geheimdienste, dass ein ganzes Netz von Saboteuren liquidiert worden sei. Weitere Details wurden nicht bekannt.
In den vergangenen Tagen ist es in Kiew ruhiger geworden. Auf den Straßen sind mehr Menschen und Autos unterwegs. Auch in den Geschäften sind wieder Waren des täglichen Bedarfs erhältlich. Doch viele spüren, dass die Bedrohung nicht verschwunden ist.
Die Hauptschlacht um Kiew steht wohl erst noch bevor.
Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel
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