Flucht aus der Ukraine nach Rumänien: Das Schwierigste kommt noch
In Sighet kommen täglich etwa tausend Flüchtende über die ukrainisch-rumänische Grenze. Politiker bitten Ministerin Schulze beim Besuch um EU-Solidarität.
Tatjana, graue kurze Haare, war fünf Tage unterwegs. Sie ist mit ihrer Tochter Svetlana und deren Kindern, zwei Jungs im Grundschulalter, aus Nikolewa in der Südukraine geflohen, einem Ort 100 Kilometer von Odessa entfernt. Sie hat eine rot-braune Stola umgeschwungen. Eine Dame. Zu Hause verkauft sie in ihrem Laden Knöpfe. „Genau jetzt“, sagt sie, „bombardieren sie Nikolewa“. Auf der Flucht haben sie in Kindergärten übernachtet und sich irgendwie durchgeschlagen.
Jetzt sind sie in Sicherheit vor dem Krieg, wenigstens das. In einem kleinen Unicef-Zelt, direkt hinter der Grenze. Unicef leistet seit dem 2. März hier Erste Hilfe für die Ankommenden. Manche brauchen psychologische Hilfe, manche Decken. Viele wollen sofort weiter – nach Italien oder Deutschland, etliche nach Polen oder Tschechien, wo viele ukrainische Arbeitsmigranten leben. Manche sind so erschöpft, dass sie in der Zeltstadt, die die rumänischen Behörden eilig hochgezogen haben, erst mal bleiben.
Tatjana, die manchmal ein paar englische Worte einstreut, will schnell weiter. Nach Spanien, wo in Madrid eine andere Tochter lebt. Weg vom Krieg. Dimitri, einer der Enkel, spielt in dem kleinen Zelt mit einer Übersetzerin. Alle sind hier zugewandt, freundlich, entspannt. Dimitri hat mit Filzstiften einen T-Rex gemalt. Und auf der Rückseite Panzer. Viele Panzer. Als es die ersten Angriffe gab, haben sich die Kinder im Keller versteckt. „Die beiden Jungen hatten Angst, wegen der Bomben“, sagt Svetlana, die Mutter. In Nikolewa hat sie bei Vodaphone gearbeitet. Was vor ein paar Tagen noch normal war, ist zerborsten, fast verschwunden.
„Wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir zurück“, sagt Tatjana und ihre Tochter nickt still. Tatjanas Mann ist in Nikolewa gebleiben. „Er wollte das Haus nicht alleine lassen“, sagt Tatjana. Er blieb, auch aus Angst vor Plünderungen. Er will auch nicht nach Spanien. Es sei ihm zu heiß, sagt Tatjana. Sie lacht. Es ist ein Lachen, das das Absurde der Situation zu vermessen scheint.
Kein EU-Staat hat eine so lange Grenze mit der Ukraine wie Rumänien. 600 Kilometer. Zweieinhalb Millionen Menschen sind vor dem Krieg geflohen, eine Million davon Kinder. Rund 400.000 haben seit dem 24. Februar die Grenze nach Rumänien passiert. Der rumänische Zoll kontrolliert nur sporadisch Pässe. Faktisch ist die EU-Außengrenze offen. Die Flüchtlinge können in Rumänien, wie in Deutschland, die Züge umsonst nutzen.
Unicef hat an der Grenze vier, fünf kleine Zelte aufgebaut, sogenannte Blue Dots. Es gibt, anders als 2015 syrische Geflüchtete kamen, keine Ressentiments gegen die Hilfesuchenden, im Gegenteil. Rumänien begegnet den Ukrainern mit Mitleid und Sympathie. Es gibt viele freiwillige Helfer, nicht nur die NGOs, auch ganz normale Leute, Bäcker oder Lkw-Fahrer. Manche kommen mit ihren Autos zur Grenze und transportieren Flüchtlinge weiter. Einfach so. Obwohl auch in Rumänien der Sprit sehr teuer geworden ist, 1,60 Euro.
In Rumänien wird diese Hilfsbereitschaft durch die gemeinsame Religion – die Orthodoxie – erleichtert. Auch die geteilte Geschichte bis 1989, die Erinnerung an Sowjetzeiten, Warschauer Pakt und russische Vorherrschaft, verbindet. Nützlich ist auch, dass die Grenzregion multisprachig ist.
„Wir wollen nichts von Berlin“
Svenja Schulze, die deutsche SPD-Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, ist am Montag eigens angereist, steht in der kleinen Zeltstadt, ein Dutzend blaue Zelte, ein paar Dixi-Klos. Die Zelte sind heute leer, letzte Woche war das noch anders, versichern die rumänischen Offiziellen. Und es steht zu befürchten, dass diese Zelte schon bald wieder gebraucht werden. Denn der Flüchtlingsstrom wird nicht abreißen. Schulze ist vor allem von den geflohenen Müttern beeindruckt, ihrer Stärke. Sie redet mit Unicef-Vertretern, Geflüchteten und rumänischen Regierungsvertretern.
Neben Schulze steht Mircea Abrudean, groß, breitschultrig, mit jungenhaftem Gesicht. Er ist Chef des Premierministeramtes – was in Berlin Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt ist. „Wir wollen nichts von Berlin“, sagt er mit fester Stimme, und Schulze nickt. Das ist ungewöhnlich für Flüchtlingskrisen, in denen in der EU die Grenzländer Hilfe von den Staaten wollen, die nicht betroffen sind. Diesmal nicht. Viel ist anders als 2015.
„Wir wollen etwas von der EU“, sagt Abrudean. „Wir wollen Solidarität von Brüssel für die zweite Welle.“ Denn das ist in Sighet allen klar: Jene, die direkt nach Kriegsbeginn kamen, waren gut organisiert. Sie kamen mit ihren Autos über die Grenzen, wussten, in welches Land sie weiterreisen wollten, und hatten Geld. Die zweite Welle von Geflüchteten ist anders. Ärmer. Es sind weniger dabei, die Englisch können. Oder die eine Tochter in Madrid haben, bei der sie unterkommen können.
Für diese zweite Welle hofft Abrudean auf Hilfe aus Brüssel. Weil Ärmere, die bleiben, mehr Geld kosten als Reiche, die auf der Durchreise sind. Auch Gabriel Vockel, Vizedirektor von Unicef in Rumänien, glaubt, dass das Schwierigste noch bevorsteht. Es gibt in der Ukraine rund 200.000 Kinder, die in Heimen leben. Die Zahl unbegleiteter Kinder und Jugendlicher werde zunehmen. Derzeit betreibt Unicef zwei Blue Dots wie in Sighet, bald werden es zehn an der rumänisch-ukrainischen Grenze sein. Das Schlimmste, das wissen alle in Sighet, es kommt noch.
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