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„Das Neue ist Schmerz“

In der Schule war Anja Wolf verunsichert, wenn es keine Schläge gab. Heute unterrichtet sie andere Frauen* in Selbstverteidigung. Sie erklärt, wie Wing-Tsun im Alltag stärkt

privat

Anja Wolf

44, lernt Wing-Tsun, seitdem sie 2001 nach Hamburg gezogen ist. Heute unterrichtet sie die chinesische Kampfkunst, die der Selbstverteidigung dient: www.wt-schule-hamburg.de.

Interview Selma Hornbacher-Schönleber

taz: Frau Wolf, wie sind Sie Wing-Tsun-Lehrerin geworden?

Anja Wolf: Ich bin als Kind in ein kleines Dorf nahe Chemnitz gezogen. In der Schule war ich der Eindringling von außen, und das hat mich die Gruppe immer spüren lassen. Ich habe dort wirklich alles an Gewalt erlebt, körperlich und psychisch. Später in meiner Ausbildung war der Chef schwierig. Auch in meiner Ehe, in die ich mit 20 gegangen bin, war Dominanz ein Thema. Daraus konnte ich mich mit 22 emotional befreien. Da war mir klar: Entweder ich gehe daran kaputt, oder ich muss etwas verändern.

Und so kamen Sie zum Kampfsport?

Ich bin damals oft an einer Kung-Fu-Schule vorbeigefahren und habe immer gedacht: Irgendwann gehst du da hin. Nur der Schritt, wirklich zu gehen, das Telefon in die Hand zu nehmen und mich anzumelden – der ist nicht passiert. Und irgendwann habe ich es doch geschafft, bin zurück zu meinen Eltern gezogen und habe dann jemanden aus Hamburg kennengelernt. Wie der Zufall es so wollte, hat die Person Wing-Tsun gemacht. Das war dann der Schlüsselmoment, der Tritt von außen.

Und als Sie nach Hamburg gezogen sind, wurde es besser?

Ich bin nicht nach Hamburg gekommen und war plötzlich selbstbewusst, stark und konnte meine Grenzen aufzeigen. Anfangs habe ich mich kaum getraut, mich hier zu bewegen, selbst Bahn zu fahren. Durch die Arbeit mit der Kampfkunst konnte ich einen riesigen Entwicklungsschritt gehen, das sehe ich heute. Seit ich weiß, ich kann das anwenden, wenn ich es brauche, habe ich ein viel klareres Auftreten.

Also geht es um das selbstbewusste Auftreten?

Ja. Wenn ich immer gelernt habe einzustecken, die Klappe zu halten, dass ich es nicht wert bin und dass auch keiner eingreift – dann nehme ich das Verhalten mit ins Erwachsenenalter. Das zeigte sich in meiner Körperhaltung. Mein Muster war immer, mich so klein wie möglich zu machen und genau das signalisiert Tätern: Jackpot, die kann ich ansprechen! In meiner Kindheit wurde so oft über meine Grenzen hinweggetrampelt und erst viel später habe ich gelernt zu sagen: „Hier ist einfach Schluss.“ In dem Moment, in dem ich mich als Frau traue, mich aufzurichten und Raum einzunehmen, werde ich ganz anders wahrgenommen.

Wie sehr spielt denn genderspezifische Sozialisierung da rein?

Es ist natürlich ein riesiges Sozialisierungsproblem. Immer noch viele denken, Mädchen sind leise und schwach, Jungs sind stark. Aber auch in allen anderen Geschlechtern ist das ein Thema, dass Grenzen überschritten werden. Alle können das erleben. Es gibt – und gab schon immer – Gewalt gegen Männer, auch in Beziehungen. Aber die holen sich seltener Hilfe: Die Scham ist oft größer als bei Frauen und gesellschaftlich wird es weniger thematisiert.

Bekommen Sie in Ihren Selbstverteidigungskursen für Frauen auch etwas von den Herausforderungen mit, vor denen trans-Frauen stehen?

Eher weniger. Ich glaube, das liegt daran, dass es ein Riesenschritt ist, sich Hilfe von außen zu holen. Da denke ich, macht es einen sehr großen Unterschied, wie die Akzeptanz in der Gesellschaft für dich ist und da spielt wiederum Gender eine Rolle. Mir ist ganz wichtig, einen Kurs für alle Menschen zu machen, weil alle Ausgrenzungserfahrungen machen können und weil es um Akzeptanz geht.

Aber zu Ihnen kommen müssen alle letztlich selbst.

Das muss die betreffende Person von innen entscheiden, das kann niemand von außen lösen. Neben der Erkenntnis: „Ich habe ein Problem“, ist die zweite große Hürde, sich irgendwo anzumelden, und die dritte, dort wirklich hinzugehen. Auch Personen in gewalttätigen Beziehungen bleiben ja oft jahrelang in dieser Situation.

Was kann es für Betroffene leichter machen, eine solche Entscheidung zu treffen?

In dem Moment, in dem die Person für sich bewusst feststellt, dass es ein Problem gibt, ist es wichtig zu wissen: „Die eine Richtung kenne ich, da wird es nicht besser, da werde ich nicht rauskommen. Aber wenn ich versuche, mich in die andere Richtung zu bewegen …“

dann gibt es zumindest die Chance, dass es besser wird. Aber wie wechselt jemand die Richtung?

Wir bleiben oft in unglücklichen Situationen, weil wir sie kennen und uns dort sicher fühlen. Ich war völlig verunsichert, wenn es keine Schläge in der Schule gab, denn ich war in der Erwartungshaltung: Irgendwann müssen die kommen. Und davon konnte ich mich nicht lösen. So geht es vielen Personen, die zum Beispiel in einer gewalttätigen Beziehung sind. Wenn du diese bekannte Zone verlässt, ist alles neu und das Neue ist auch erst mal Schmerz. Da muss man sich motivieren, sich selbst Mut machen, egal wie anstrengend es ist und was unser Unterbewusstsein sagt. Alle haben das Potenzial, etwas an ihrer Situation zu verändern. Man muss ein neues Muster, eine neue Lösung erlernen. Erst wenn ich das häufig genug geübt habe, wird es ein automatischer Prozess, der zu mir gehört.

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