piwik no script img

Rettung durch Grammatik

Saterfriesisch ist die am stärksten bedrohte Minderheitensprache Deutschlands. Linguisten aus den Niederlanden tragen dazu bei, sie vor dem Verschwinden zu bewahren

Internationaler Tag der Muttersprachen

Auf Antrag von Bangladesh hat die Unesco im Jahr 2000 den 21. Februar als Tag der Muttersprachen eingeführt, vor 20 Jahren wurde der Welttag von der UN-Vollversammlung per Resolution angenommen.

Der Termin bezieht sich auf die blutige Niederschlagung der Proteste gegen die Sprachpolitik Pakistans. Dessen Regierung hatte Anfang 1952 das nur von etwa 3 Prozent gesprochene Urdu zur alleinigen Amtssprache erklärt und das in Ostpakistan, dem heutigen Bangladesch vorherrschende Bengalische aus Schulen und Ämtern verbannt.

Generalstreik und Demonstrationen wurden am 21. Februar gewaltsam niedergeschlagen, zehn Studenten von der Polizei getötet. Beigelegt wurde der Konflikt erst mit der Unabhängigkeit Bangladeschs 1971. (taz)

Von Anaïs Kaluza

Kann man eine Sprache vorm Verstummen retten? Im Nordwesten Deutschlands, auf einem Landstrich kleiner als Hamburg-Mitte, steht eine Gemeinde vor genau dieser Frage: das Saterland. Rund 14.000 Menschen leben dort, etwa 2.000 von ihnen sprechen noch fließend „Seeltersk“ – Saterfriesisch. Um es am Leben zu halten, soll nun die Sprachwissenschaft helfen.

Wie? Da fragt man am besten Henk Wolf, Linguist und holländischer Westfriese. Als Jugendlicher fuhr er zum Zelten ins „Seelterlound“, seit knapp einem Jahr sitzt er als Beauftragter für Saterfriesisch im Rathaus. Ein neuer Posten, den die Gemeinde und die Oldenburgische Landschaft geschaffen haben. Wolf hat zwei Aufgaben: Sprachforschung und Sprachförderung.

Besonders mit der Forschung hat er es eilig. „Noch leben ein paar Menschen, die einsprachig mit Saterfriesisch aufgewachsen sind“, sagt er. „In 20 Jahren kann man sie zu ihrer Sprache nicht mehr befragen.“

Weltweit gibt es knapp 7.000 Sprachen, jede zweite gilt als gefährdet. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts, so eine Prognose der Australian National University, werden rund 1.500 Sprachen verschwinden. In Deutschland gelten laut UNESCO Nord- und Saterfriesisch als ernsthaft bedroht. Dass Saterfriesisch bis heute überlebt hat, grenzt ohnehin an ein Wunder. Es liegt an der Geografie des Saterlandes. Vor etwa 1.000 Jahren besiedelten es die Ostfriesen. Sturmfluten, so vermutet man heute, trieben sie von der Nordsee ins Landesinnere. Das Saterland war damals von Mooren eingeschlossen: eine Insel aus Sand, nur mit Booten erreichbar, oder wenn das Moor im Winter zufror. Während ringsherum immer mehr Menschen erst Nieder-, dann Hochdeutsch lernten, blieben das Saterland und seine Sprache ungestört. Erst mit der Industrialisierung öffnete es sich.

Zur „kleinsten Sprachinsel Europas“ kürte das Guinness Buch der Rekorde 1990 das Saterland. Um die seit 1999 anerkannte Minderheitensprache zu schützen, stellen der Bund und Niedersachsen Gelder bereit. Für 12.000 Euro hat Henk Wolf im vergangenen Jahr eine Grammatik in Auftrag gegeben. „Saterfriesisch bleibt nur erhalten, wenn Menschen wieder lernen, es zu sprechen“, sagt er. „Es gibt zwar ein Online-Lexikon, um Wörter zu übersetzen. Doch wie man die dann im Satz verwendet, steht nirgendwo. Ein Nachschlagewerk für Lernende hatte bisher gefehlt.“

Grammatik kommt vom ­Schreiben. Saterfriesisch war aber lange nur eine gesprochene Sprache. Ende der 1960er, als Eltern aufhörten, mit ihren Kindern Seeltersk zu reden, fingen zwei Männer an, die Sprache zu dokumentieren. Pyt Kramer, ein Ingenieur und Hobby-Linguist aus den Niederlanden. Und Marron Fort, ein US-amerikanischer Germanist. Er veröffentlichte ein Wörterbuch mit rund 25.000 Begriffen, übersetzte das Neue Testament und führte damit ein Schriftsystem ein. Dank seiner und Kramers Arbeit gibt es heute Liederbücher und Kindergeschichten wie „Die litje Prins“ auf Saterfriesisch.

Ihre Werke bilden auch die Grundlage für die neue Grammatik. Drei For­sche­r*in­nen der Fryske Akademy in Leeuwarden haben für sie die Schriften ausgewertet, mit neueren Studien verglichen und in dem Korpus nach Regeln gesucht. Im Januar ist eine erste Version der so entstandenen Grammatik online gegangen. In ihr steht, wie man im Saterland konjugiert und dekliniert, Verniedlichungen bildet und Mengen ausdrückt. Man kann nachlesen, dass es drei Geschlechter gibt, keinen Genitiv, aber 24 – statt nur 5 – gesprochene Vokale und 16 Diphthonge.

„Wir haben Elemente gefunden, die wir aus dem Englischen, Deutschen, Niederländischen und natürlich aus dem Friesischen kennen“, sagt Tessa Leppers, eine der Autor*innen.

„Eine Sprache muss sichtbar sein“

Henk Wolf, Linguist, Saterfriesisch-Beauftragter

Diese Sprachen haben alle dieselben Wurzeln. Würde man die indoeuropäischen Sprachen als Baum zeichnen, der Stamm teilte sich auf in zwei große, knorrige Äste: Nord- und Westgermanisch. Aus dem westlichen würden als Zweige Englisch und Deutsch sprießen, und als dünnster: Friesisch. Ein winziges Blättchen am friesischen Zweig, das wäre dann Saterfriesisch.

Erforscht werden friesische Sprachen vor allem in den Niederlanden. In Deutschland gibt es das Friesische Seminar an der Uni Flensburg und das Fach Frisistik an der Uni Kiel fürs Nordfriesische. In Oldenburg wird Saterfriesisch vom Germanistik-Lehrstuhl nur mitbearbeitet. Der Auftrag für die Grammatik ging auch darum nach Leeuwarden, und, weil es schnell gehen sollte. „Die Fryske Akademy konnten wir als privates Institut relativ leicht beauftragen“, so Wolf.

Schon jetzt kann die Grammatik genutzt werden: von Lehrer*innen, die „Seeltersk“ in der Grundschule unterrichten wollen. Oder von Ehrenamtlichen, die dafür in Kindergärten gehen, wenn die Pandemie es wieder zulässt. Kann das die Sprache retten? „Wenn man nichts macht, verschlechtert sich die Lage auf jeden Fall“, sagt Wolf. „Eine Sprache muss sichtbar sein und eine Funktion haben. Dann sehen die Menschen auch einen Wert darin.“

Sichtbar ist Seeltersk auf den Ortsschildern im Saterland. Auch gibt es Straßennamen wie „Littje Wai“ oder „Piepkebierich“. Im Radio läuft jeden zweiten Sonntag bei der Ems-Vechte-Welle die Sendung „Middeeges“ – Mittags. Vielleicht sind das nicht nur Relikte, sondern Boten eines Neuanfangs.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen