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Slalom der AußenseiterEin Hang zum Kitsch

Indien, Haiti und Hongkong machen das Slalomrennen zum olympischen Familienfest. Die Geschichten der alpinen Exoten sind auf ihre Weise groß.

Ist Dabeisein doch alles? Yung Hau Tsuen Adrian aus Hongkong kurvt olympisch Foto: Christian Hartmann/Reuters

Wer die kitschigsten Olympiamomente sucht, der ist bei einem Slalomrennen genau richtig. Dort sind Sportler zu treffen, die im Elitezirkel der Besten für gewöhnlich keinen Platz haben. Dass sie nicht mithalten können, macht ihnen nichts aus. So abgedroschen es klingen mag – es geht ihnen ums Dabeisein. Das sieht dann so aus, als wäre Olympia wirklich ein Familienfest des internationalen Sports. Es mag Streit geben um die ersten Plätze, aber eigentlich sind alle happy, dass sie sich mal alle sehen. Im Zielhang hoch oben über Yanqing wurden vor dem Rennen am Mittwoch Fahnen von Nationen angebracht, die man auch ganz unten im Medaillenspiegel nicht finden wird. Albanien, Indien, Haiti oder Hongkong.

Die Delegationen dieser Länder stehen auf der Tribüne. Sie machen Stimmung, so gut das eben geht auf den gewohnt spärlich besetzten Rängen. Einmal wird es besonders laut. Richardson Viano aus Haiti fährt durchs Ziel. 34. wird der einzige Winterolympionik seines Landes am Ende. „Es war toll“, sagt er, „immerhin bin ich ins Ziel gekommen.“ Jetzt hat er eine Botschaft für seinen so geschundene Heimat.

„Aufgeben darf man nicht, und glauben muss man daran, dann kann man etwas schaffen.“ Der 19-Jährige hat früh seine Eltern verloren und ist bei Adoptiveltern in Frankreich aufgewachsen. Die haben ihn zum Schnee gebracht. Jetzt ist er der erste Haitianer bei Winterspielen. Eine Geschichte so schön, als hätte sie sich eine Werbeagentur fürs IOC ausgedacht.

Als er sie erzählt, steht längst fest, wer Olympiasieger ist. Es ist einer der üblichen Verdächtigen. Clément Noël aus Frankreich. Neun Weltcupslaloms hat er gewonnen, einen auch in dieser Saison. Vor vier Jahren in Pyeong­chang verpasste er um 16 Hundertstel das Podium, wurde Vierter und kaum jemand interessierte sich für ihn. Das ist jetzt anders. Im zweiten Durchgang fährt er vielleicht das Rennen seines Lebens. Später bringt er auf den Punkt, was das Besondere an Olympia ist: „Du hast nur einen Schuss – eine Minute und 40 Sekunden alle vier Jahre.“ Dass er es drauf hat, habe er schon im Training gespürt, sagt er. Aber man weiß ja nie.

Der „Spezi“ landet vorn

Linus Straßer aus München, der nach dem ersten Durchgangs Fünfter und damit einen Platz besser war als Noël, sagt nach dem Rennen: „Als ich die Zeit des Franzosen gesehen habe, da wusste ich, dass dieser Spezi ganz weit vorne landen würde.“ Er selbst verpasst Bronze um 23 Hundertstel. Man sieht ihm an, dass er der großen Medaillenchance ein wenig nachtrauert. Vorwürfe kann er sich aber keine machen. „Ich bin so gut gefahren, wie es ging.“ Silber geht dann an den Österreicher Johannes Strolz, den Olympiasieger in der Kombination, Bronze an den Norweger Sebastian Foss-Solevåg, den Weltmeister. Keine Schlechten.

Als die ihren Marsch durch die Interviewzone starten, ist Adrian Yung schon lange Richtung Tal unterwegs. Der junge Mann aus Hongkong, 17, hat es nicht in den zweiten Lauf geschafft. Er hat ein Tor verfehlt. Dennoch wird er nach dem ersten Durchgang im Zielraum zum Lächeln gedrängt. Die Delegation des Olympischen Komitees von Hongkong ist hinauf gefahren nach Yanqing. Die Honoratioren wollen sich mit ihm fotografieren lassen. Die Fahne Hongkongs wird geschwenkt. Fast sieht das so aus, als sei es ein heiterer Familienausflug. Dabei hätte kaum mehr schiefgehen können bei der Olympiakampagne von Hongkong.

Die 19 Jahre alte Audrey King, auch eine alpine Skifahrerin, wurde bei der Einreise aus Bosnien, wo sich das Skiteam vor Olympia aufgehalten hat, positiv auf das Coronavirus getestet und isoliert. Adrian Yung und der Trainer des Skiteams, Marko Rudić, mussten als Kontaktpersonen in bedingte Isolation. Audrey King schied dann früh in ihrem Slalomrennen aus. Und Yung wurde so etwas wie der tragische Held des Riesenslalomwettbewerbs. Im Schneetreiben löste sich die Bindung eines Skis. Stinksauer war er.

Trainer Rudić, als ehemaliger Olympionik für Bosnien und Herzegowina auch so ein alpiner Exot, ist seit Sommer mit seinen Schützlingen in Europa unterwegs, weil Coronarestriktionen eine Heimreise nach Hongkong nicht möglich gemacht haben. Auch deshalb ist er stolz: „Was alles hinter den beiden liegt, in diesem Alter, da habe ich größten Respekt.“ Jetzt geht es zu den Asienmeisterschaften im alpinen Skisport. Die starten schon am 23. Februar im libanesischen Kfardebian. Was man nicht so alles erfährt am olympischen Slalom­hang.

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