Bildsprache im Sturm auf das Kapitol: Inszenierung als wahre Erben
Charlotte Klonk analysiert in ihrem Essay „Revolution im Rückwärtsgang. Der 6. Januar 2021 und die Bedeutung der Bilder“ die Erstürmung des Kapitols.
Surreal wirken die Fotos. Da ist ein Mensch zu sehen mit Fellmütze, Bart, nacktem Oberkörper, Fahne in der Hand. Er steht in einem Gang des wie ein Museum wirkenden Gebäudes, mit den in goldfarbenen Rahmen gefassten Gemälden und dem kunstvoll gestalteten Boden.
Am 6. 1. 2021 drangen Menschen gewaltsam in den Sitz des Kongresses in der US-amerikanischen Hauptstadt Washington, D. C. ein. Neben Fellmütze trugen andere militärisch wirkende Ausrüstung, viele Trump-Merchandise, manche Hinweise auf die QAnon-Verschwörungsideologie, in der Donald Trump die Rolle des Retters vor dem Bösen spielt.
Um 10.000 Menschen demonstrierten an dem Tag, an dem Senat und Repräsentantenhaus den Sieg von Joe Biden bei der Präsidentschaftswahl 2020 förmlich bestätigen sollten, in der Nähe des Weißen Hauses, circa 800 überwältigten später Sicherheitskräfte am Kapitol und drangen in das Gebäude ein, um Joe Bidens Sieg zu verhindern. Die Anhänger*innen von Trump, der wenige Stunden zuvor zu Protesten gegen den Ausgang der Wahl aufgerufen hatte, machten Selfies vor Statuen ehemaliger US-Präsidenten, setzen sich in die Büros von Abgeordneten, brachen in den Sitzungssaal des Senats ein und wühlten in Unterlagen. Dabei wurden über 150 Polizist*innen verletzt, vier Menschen starben, später nahmen sich fünf Personen, davon vier Polizisten, das Leben.
Bis heute fällt es schwer, Worte dafür zu finden, wie Charlotte Klonk in ihrem Essay „Revolution im Rückwärtsgang. Der 6. Januar 2021 und die Bedeutung der Bilder“ schreibt. „Sturm, Belagerung, Putsch und in den USA auch inländischer Terrorismus, das sind die häufigsten Bezeichnungen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen verwendet werden“, stellt Klonk, Professorin für Kunst und neue Medien, auf den ersten Seiten des Essays fest. „Die Bilder aber, so soll im Folgenden deutlich werden, legen eine Fährte in eine andere Richtung. Und so viel sei vorweggenommen: Sie zeigen Menschen, die sich als wahre Erben und Behüter der Errungenschaften der Amerikanischen Revolution verstehen.“
Bezüge zu 1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung
Die Zahl der Nationalflaggen, die Bezüge zu 1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung, die Selbstbeschreibung als „we the people“ – all das zeigt der Autorin, dass es um eine „Revolution im Rückwärtsgang“ ging. Sie sähen sich als Verteidiger*innen der USA und ihrer Verfassung, wie sie weiße Männer begründet und gedacht hätten. Dabei bekämpfen sie alles, was progressiv ist, von der Anerkennung diverser Geschlechtsidentitäten bis zur Abschaffung weißer Vorherrschaft. In diesem Kontext bezeichnet Klonk die Ereignisse am 6. Januar als Versuch einer „Retrovolution“.
Joe Biden, heute US-Präsident, bezeichnete die Ereignisse als Angriff auf die Demokratie. Dass sich die Beteiligten als Vertreter*innen des Volks sahen und als Verteidiger*innen der Verfassung, widerspricht dieser Perspektive. Die Idee der Volkssouveränität habe eine große Rolle gespielt, meint Charlotte Klonk. „Ist Privilegiensicherung durch Ausgrenzung ein legitimes Ziel, das im Namen des Volkes gegen den Staat durchgesetzt werden kann“, fragt sie mit Blick auf den 6. Januar, „oder stößt genau hier das Prinzip der Volkssouveränität an seine Grenzen?“
Obwohl Klonk den Begriff „Retrovolution“ aus der Amerikanischen Revolution ableitet, ist er übertragbar. Auch in anderen Gesellschaften gibt es Bewegungen, die sich durch das Zusammenspiel aus Offlineversammlungen und einer breiten Onlinethematisierung, unter anderem durch Fotos, zu einem Widerstand im Namen des Volkes überhöhen. In Deutschland erklären sich Teilnehmer*innen bei Pegida oder bei Demonstrationen gegen Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 als das Volk.
Mit ihrer gut nachvollziehbaren Analyse und der Einordnung des 6. Januars gibt Charlotte Klonk interessante Impulse, die in die Frage münden, wie Demokratien weltweit damit umgehen können, wenn im Namen einer „Volkssouveränität“ Forderungen gestellt werden, die einer solidarischen und progressiven Haltung entgegenlaufen.
Sie bleibt aktuell – auch ein Jahr nach den Ereignissen am Kapitol. Medien, Politiker*innen und Sicherheitsbehörden in den USA befürchteten in den vergangenen Tagen, dass auch am 6. Januar 2022 in Washington, D. C. ähnlich unfassbare Bilder entstehen könnten wie vor einem Jahr.
Leser*innenkommentare
Uranus
Hier eine sehenswerte Rekonstruktion der Erstürmung des Capitol durch Rechte und Mob:
"Day of Rage: How Trump Supporters Took the U.S. Capitol | Visual Investigation"
- veröffentlicht durch die New York Times
www.youtube.com/watch?v=jWJVMoe7OY0
el presidente
Die "Anhänger*innen" von Trump waren Anhänger.
Nilsson Samuelsson
Viel Theorie und Aufmerksamkeit um die Politik der Republikaner und die neoliberale Inszenierung und Medienzirkus. Mit Fellkostümen, Hüte und alles drum und dran. Wie Musical und Operette - wäre nicht Menschen dabei schwer verletz und gestorben. Da hört der Spaß doch wirklich auf.
10 000 Demonstranten ist ja nicht mal viel für so ein "Welt"- Ereignis.
In Dresden hatten wir immer wieder weit über 10 000 demonstrierenden Menschen auf den Straßen mit Nazis, Pegidist:innen, Gegendemonstrant:innen und Polizist:innen.
In Berlin nahmen am 20. September 2019 bis zu 250 000 Menschen an einer Klimademo teil.
www.welt.de/newsti...00-in-Hamburg.html
Überrascht dennoch ein bisschen, dass die US-Polizei offenbar nicht darauf vorbereitet war, 800 Demonstrant:innen aufzuhalten - aber weil das missling, heisst es ja es ja lange nicht, dass es etwas mit Revolution zu tun hat.
(waren es wirklich nur 800?)
Thomas L.
Am 06.01.2021 wurde aus Sicht der sog. westlichen Demokratien die Büchse der Pandora geöffnet. Seither wurde sie nicht geschlossen. In Deutschland muss die neue Regierung noch zeigen, ob sie nicht genauso neugierig ist, wie die vorherige, die einiges Tat, um einen Blick hinein zu erhaschen.