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Trainingscamp für Extremisten

Soziale Medien bieten den fruchtbarsten Boden für Hetzkampagnen, sind Fundgrube für Geheimdienste und Geschäftemacher. Und sie spalten die Gesellschaft

Illustration: Katja Gendikova

Von Matthias Eckoldt

Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Im Falle des Internets trifft die Aussage von Heraklit zu, denn es entstand explizit als militärische Operation. Doch warum will denn das Militär, dass wir alle in einem weltweiten Netzwerk ungeniert kommunizieren? Nun ja, wer in Plauderlaune versetzt wird, gibt vieles von sich preis. Viel mehr, als Verhöre und Spionage jemals zutage fördern würden. Insofern erschreckte es zwar, aber verwunderte letztlich niemanden, als herauskam, dass die NSA eine wahre Sammelwut an den Tag legt(e). Private Kommunikationen werden durchforstet, Nachrichten in E-Mails, Messenger- sowie Social-Media-Diensten mitgelesen, Bewegungsprofile erstellt und Treffpunkte errechnet.

Wie man aus den Leaks von Edward Snowden weiß, griff die NSA bereits im Jahr 2012 mehr als 20 Milliarden Kommunikationsereignisse weltweit ab – und zwar an jedem einzelnen Tag. Der Viersternegeneral Keith B. Alexander hatte als Chef der NSA die Parole ausgegeben: „Sniff it all! Collect it all! Know it all!“

Ausspionieren ist jedoch lediglich die Pflicht, Manipulieren hingegen die Kür, die das Internet für Militär, Politik und Wirtschaft gleichermaßen interessant macht. Diese neue Evolutionsstufe der digitalen Kommunikation wurde mit den von dem Internetpionier Jaron Lanier so benannten Bummer-Medien erreicht: Behaviors of Users Modified, and Made into an Empire for Rent. Es geht also um ein Imperium, das Verhaltensweisen von Nutzern verändert, um damit Geld durch Vermieten zu machen. Besonders die sozialen Medien sind mit dem Akronym Bummer gemeint, dessen Wortbedeutung schlicht und treffend Mist lautet. Sean Parker, der Gründungspräsident von Facebook, spricht von einem Dopaminkick als Grundidee der Firma, der den User in Feedbackschleifen für soziale Anerkennung mit beträchtlichem Suchtpotenzial verstrickt.

Das Social-Media-Oxymoron heißt anonyme Anerkennung. Sie schafft temporäre Befriedigung, die rasch wieder verfliegt, weil die Anerkennung gerade wegen der abstrakten Uniformität der vom Stil her infantilen Emojis und der bestärkenden Kommentare von „Freunden“, die man nie in seinem Leben sehen wird, in etwa so nahrhaft wie Fastfood ist.

Die Fixierung auf den verheißungsvollen Dopaminkick führt zum Realitätsverlust, der in einem Rattenexperiment von James Olds und Peter Milner plastisch wurde. Die beiden Forscher hatten ihren Versuchstieren Elektroden in verschiedene Regionen des Belohnungssystems implantiert. Über einen Hebel konnten die Ratten den Stromkreis schließen und so eine Belohnung in ihrem Hirn auslösen. Stundenlang drückten sie im Dauerfeuer die Taste, bis zur absoluten Erschöpfung, schließlich sogar bis zum Tod. Die im Gehirn angelegte Impulskontrolle war machtlos gegen die direkte Stimulation der Belohnungsnetzwerke. Anerkennung fungiert im Social-Media-Zeitalter ähnlich – als eine Art digitaler Glückshebel. Eine Ersatzbefriedigung für die nicht erhaltene, persönlich gewidmete differenzierte Anerkennung, die doch eigentlich ersehnt wird.

Kirsten Breustedt

Matthias Eckoldtist Autor von ­Romanen und Sachbüchern. Zuletzt erschien seine „Kritik der digitalen Unvernunft. Warum unsere Gesellschaft auseinanderfällt“, Carl-Auer-Verlag. @MatthiasEckoldt

Die in den sozialen Medien agierenden Algorithmen verhalten sich adaptiv. Sie sind lernende, sich selbst optimierende künstliche Intelligenzen. Kein Programmierer in den IT-Firmen kann voraussagen, in welcher Weise sich so ein hochkomplexes System entwickelt und was es als Nächstes tun wird, um seine Zielvorgabe zu erreichen. Eingeordnet sind die Algorithmen allesamt getreu der Botschaft des Mediums Internet, also der gnadenlosen Verstrickung des Menschen ins digitale System. Übersetzt ins Praktische, bedeutet das die unablässige Erhöhung der Verweildauer des Users auf den digitalen Plattformen.

Facebook entwickelte eine Idee, die das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung noch effektiver zu stillen vermag. Nach dem Vorbild der Peergroup ermöglicht Facebook die Bildung von Gruppen. Unter dem Motto „Mehr gemeinsam“ kündigte Facebook an, dass jeder seine Gruppe finden werde – von veganen Bodybuildern über Kurzhaarfrisurenträgerinnen bis hin zu Fellnasenfreunden. Neben solch arglosen Ansammlungen von Usern im digitalen Raum öffnen jedoch auch Gruppen mit einer eindeutigen Agenda ihre virtuellen Türen. Die heißen dann etwa „Ärzte wie Bhakdi und Wodarg warnen vor der Corona-Impfung“, „Die Römischen Reichsbürger“ oder „Deutschland den Deutschen“. Durch das gemeinsame Ziel ist negatives Feedback innerhalb dieser Gruppen weitgehend ausgeschlossen. Stattdessen überbieten sich die Nutzer, unter denen sich oft auch Fake Accounts und Bots befinden, in ihren Posts. Wer die verwegensten beziehungsweise krudesten Argumente vorbringt, bekommt den stärksten digitalen Applaus. Die Wahrnehmung der User wird ebenso manipuliert wie separiert, und soziale Medien können so als mentale Trainingscamps für Extremisten fungieren.

Kein Wunder, dass die Anwerbungen des IS und die Rekrutierungen von Impfgegnern nach demselben Prinzip funktionieren: Sobald sich ein User im Netzwerk skeptisch zu Impfungen oder positiv zum Dschihad äußert, erhält er vermehrt Einladungen zu entsprechenden Gruppen. Wenn er oder sie dann einer solchen digitalen Community beitritt, kommen weitere Einladungen. Die notorische Aktivität solch eifernder Gruppen wird von den Algorithmen belohnt. Ihre Geschichten von angeblich verschwiegenen Todesfällen nach dem Impfen beziehungsweise tatsächlichen Hinrichtungen von Ungläubigen im islamistischen Krieg erscheinen dann ganz oben im Newsfeed.

Nicht zuletzt wegen dieser Realitätsverzerrung sind die Effekte wie die gegenwärtige Verwischung der Grenze zwischen Fake und Real News, die allgegenwärtige Empörungskultur, die neu entstandene Lust am Aufruhr und die Drift in die hyperindividualistische Totalopposition nur schwer in den ersten Entstehungsstadien zu erkennen. Dennoch werden auf diese Weise mitunter reale Fakten geschaffen. Plötzlich sind die Briten aus der EU ausgetreten, ein dubioser, gemeingefährlicher Troll hat es bis ins Oval Office geschafft, ein Tankwart in Idar-Oberstein wird kaltblütig ermordet, und ausgerechnet in dem Land, in dem das hochwirksame Vakzin gegen SarsCoV-2 entwickelt wurde, lassen sich kaum mehr als 70 Prozent der Menschen impfen.

Ausspionieren ist lediglich die Pflicht, Manipulieren die Kür

Wie hartnäckig in Zeiten der neuen Medientechnologien das Schlechteste einer Gesellschaft hervorgekehrt wird und wie massiv die Struktur der Social-Media-Plattformen Hass und Zwietracht begünstigt, machen demografische Untersuchungen deutlich. Repräsentative Umfragen der in Demografie renommierten Monmouth-Universität in New Jersey ergeben ein besorgniserregendes Bild. 32 Prozent der befragten US-Amerikaner glauben, dass es bei der Wahl von Joe Biden nicht mit rechten Dingen zuging. Zugleich waren 34 Prozent im Juni 2021 nicht geimpft. Die beiden Drittel haben zwar eine Schnittmenge, rekrutieren sich jedoch nicht vollständig aus denselben Befragten. Wenn man diejenigen zusammenzählt, die geimpft sind und die Wahlen nicht bezweifeln, kommt man auf gerade einmal 51 Prozent. 45 Prozent dagegen glauben entweder an einen unrechtmäßigen Sieg Bidens oder lassen sich nicht impfen. Fast die Hälfte der Amerikaner glauben also eher Verschwörungserzählungen als einschlägigen Experten und Institutionen. Plastischer ist die durch Social Media bewirkte Spaltung der Öffentlichkeit kaum darzustellen.

Toxisch wird die Wirkung der Social-Media-Kanäle auf die Gesellschaft durch ihre gewaltigen Nutzerzahlen. Facebook nimmt mittlerweile die magische 3-Milliarden-Grenze ins Visier, 2,3 Milliarden benutzen Youtube, 206 Millionen loggen sich täglich bei Twitter ein. Wenn man mehr als eine Milliarde Chinesen hinzurechnet, für die es mit WeChat ein eigenes System gibt, und die bei den Millennials besonders beliebten Netzwerke von YO über Voycee bis Snapchat hinzunimmt, so hat sicher jeder zweite Erdenbewohner Zugang zu sozialen Medien. Die gesamte Kommunikationsstruktur unseres Planeten befindet sich im Umbau. Der Stammtisch, an dem man ungestraft Lügenmärchen und hemdsärmelige Ansichten bis hin zu blankem Hass ventilieren kann, bekommt globale Reichweite.

In dem Moment, wo mit den kursierenden (Des-)Informationen entweder direkt über Werbung für Freunde, Follower und Abonnenten oder indirekt über die Vermietung von Nutzerdaten Geld gemacht wird, hat der Geschäftseigner auch Verantwortung für sein Produkt. Der Zugang zu den Plattformen ist kostenlos. Wenn nicht der Dienst das Produkt ist, muss es der User selbst sein. Die vielen Milliarden werden in den sozialen Medien mit den gnadenlos ins Netz verstrickten, süchtig am Dopamintropf des Surrogats sozialer Anerkennung hängenden, von Algorithmen konditionierten und teilweise radikalisierten Usern gemacht. Solange ihre Produkte auf den Plattformen lediglich inhaltlich Belangloses, aber für das Datentracking Bedeutungsvolles austauschen, tragen die Unternehmen höchstens Verantwortung für die Lebenszeitverschwendung ihrer User. Sobald diese aber mit Desinformation, gesundheitsgefährdenden Verschwörungsideologien und Hass zum Verweilen in den Netzwerken verführt werden, sieht die Sache anders aus. Hier ist eine wirtschaftsethisch rote Linie überschritten, da beschädigte Produkte verkauft werden, denen in algorithmengesteuerten Feedbackschleifen immer weiter zugesetzt wird. Gnadenlos manipulierte, süchtig gemachte Menschen aber sind für Regierungsformen wie die Demokratie verdorben. Wenn nicht schleunigst professionelle Recherche- und Vermittlungsstandards in den sozialen Netzwerken implementiert werden, stehen raue Zeiten bevor.

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