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In der Konservendose

STIMMEN NAMIBIAS Aus dem Depot geborgen: Eine kleine, lehrreiche Ausstellung in der Humboldt-Uni spürt der Verbindung von Ethnologie und Kolonialismus nach

Es gab einen Wahn des Erfassens der sogenannten Naturvölker – zu deren Verschwinden die „Kulturvölker“ vorher beigetragen hatten

VON SABINE SEIFERT

„Ich wurde heute Morgen von einem Polizisten geholt und hierher gebracht. Hier wurden mir und einem anderen Jungen dieses Zeug ins Gesicht geschmiert, das genau so aussieht wie ich, bloß es kann nicht reden.“ Derjenige, der hier redet, ist Friedrich Blauws, ein Namibier. Das, „was genau so aussieht wie ich“, ist eine Abformung seines Gesichts, die der Deutsche Hans Lichtenecker von ihm machen ließ.

Es war 1931, als Lichtenecker ins heutige Namibia reiste, damals Südwestafrika, um dort Menschen zu vermessen, zu fotografieren, ihre Gesichter in Gips abzubilden und ihre Stimmen auf Wachswalzen festzuhalten. Hans Lichtenecker war kein Wissenschaftler, er bezeichnete sich als Künstler, stellte aber seine „Kunst“ in den Dienst von Anthropologie und Ethnologie. Ihm schwebte ein visuelles Archiv der „aussterbenden Rassen“ vor. Die Tonaufzeichnungen übergab er dem Berliner Phonogrammarchiv – wo die Aufnahmen unbeachtet überlebt haben. Die Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann ließ sie vor Kurzem erst übersetzen. So kommt es, dass, was wir sehen – eine Gipsmaske eines Namibiers aus dem Jahr 1931 – nicht dem entspricht, was wir hören: Entrüstung und Erschrecken des Porträtierten.

Denn was wir sehen, ist immer auch: was wir nicht sehen. Oder nicht sehen wollen. Oder einfach nicht verstehen. Eine kleine Ausstellung im neuen Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität Berlin spürt unter dem Titel „Was wir sehen“ den Verbindungen von Ethnologie und Kolonialgeschichte nach und führt dabei zurück in die Entstehungsgeschichte dieser Wissenschaft. Denn Ethnografen, Anthropologen, Sprachforscher gingen eifrig auf Expeditionen und sammelten, was die kolonisierten Länder hergaben: Skelette, Schädel, sakrale und Alltagsobjekte. All das landete auf dem Markt – oder verschwand in den Depots der Völkerkundemuseen. So auch große Teile des umfangreichen Berliner Laut- bzw. Phonogrammarchivs, dessen wechselhafte Geschichte allein eine Ausstellung verdiente. 52 Wachszylinder übergab Lichtenecker dem Archiv. Zwar konnte die empfindliche Sammlung in den 90er-Jahren digitalisiert werden, doch einen Kurator dafür gibt es derzeit nicht. Erst Ausstellungsprojekte wie „Was wir sehen“ schaffen auch einen Zugang zu den historischen Aufnahmen.

Ein Knistern ist über Kopfhörer zu hören, eine Stimme, die in einer fremden Sprache spricht. Oder singt, klagt, schimpft. Hans Lichteneckers Tätigkeit in Südwestafrika steht im Mittelpunkt der Ausstellung, die sich um eine kleine Auswahl der für sein Archiv physisch, optisch, stimmlich inventarisierten Menschen gruppiert. Die Kulturwissenschaftlerin Anette Hoffmann ist nach Namibia gereist, um in Archiven vor Ort nach Lichteneckers Tagebüchern und Fotografien zu forschen. Sie konnte außerdem einige Nachfahren seiner „lebenden Objekte“ aufspüren. Dass die Prozedur des Abformens in der Polizeistation in Keetmanshoop mit Angst, Ungewissheit und Erstickungsgefühlen verbunden war, davon wissen ihre Angehörigen heute noch zu berichten.

Was wir deshalb nicht sehen, bewusst nicht zu sehen bekommen, sind die Masken jener Männer und Frauen. Um das Entwürdigende der Situation nicht zu wiederholen, verzichtet die Ausstellungsmacherin auf spektakuläre Schädel, Haarproben oder die in Gips erstarrten Gesichter der Hottentotten oder Buschmänner, an denen Lichtenecker besonders interessiert war. Ton- und Bildebene stehen stattdessen eigenständig nebeneinander; das eigentlich Spektakuläre dieser kleinen Ausstellung sind die historischen Aufnahmen in Otjiherero oder Khoekhoegowap. Sie beinhalten nicht nur Poesie und Gesänge dieser Kulturen mit starken oralen Traditionen, sondern enthalten auch Botschaften ans ferne Deutschland, die die Situation der Sprechenden konterkarierten, kommentierten, ergänzten. Den selbst ernannten Ethnologen Lichtenecker interessierten sie nicht – er machte sich nicht einmal die Mühe, das Gesagte übersetzen zu lassen.

Ihn interessierten Dialekt, Augenfarbe, Hauttyp: Lichtenecker und seine Kollegen waren von einem oft rassistisch grundierten, pseudowissenschaftlichen Wahn des Messens und Erfassens der so genannten „Naturvölker“ angetrieben – zu deren Verschwinden die so genannten „Kulturvölker“ vorher durch Kolonialkriege beigetragen hatten. Nachdem die Deutschen ihre Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg verloren hatten, holte man sich die Welt ins eigene Land: Die Forscher gingen in Kriegsgefangenenlager, in denen Soldaten, Männer aus den Kolonien Frankreichs oder Großbritanniens inhaftiert waren. Auch sie mussten in den Aufnahmetrichter sprechen, dies wurde auf Wachswalzen gepresst, landete schließlich im Bestand des Berliner Phonogrammarchivs.

Dessen Geschichte ist ein langes Durch- und Miteinander der verschiedenen Disziplinen und Forschungsansätze des frühen 20. Jahrhunderts. Technisch ermöglicht durch Grammophon und Edison-Phonographen wurden Gesangs- und Sprechproben fremder Völker, aussterbender Kulturen oder Sprachen auf Wachswalzen bzw. -zylinder aufgenommen, dann auf Schellackplatten überspielt. Es gab eigens eine Königlich Preußische Phonographische Kommission – später flossen die verschiedenen Sammlungen zusammen, das Phonogrammarchiv ging 1934 in den Besitz des damaligen Völkerkundemuseums über. Welche heiklen Bestände in den ethnologischen Depots noch lagern, vor welche Probleme sie die damit arbeitenden Wissenschaftlerinnen stellen mögen, auch davon vermittelt die Ausstellung – und weit darüber hinaus das Begleitbuch – eine Ahnung. So fand sich 1998 im Depot des Wiener Kunsthistorischen Museums eine Kiste mit Gipsmasken, die Anthropologen jüdischen Häftlingen abgenommen hatten, kurz bevor sie deportiert wurden.

„Was wir sehen“ – und hören – können, sind „sensible Sammlungen“, die nicht in sich sensibel oder heikel sind, sondern unter heiklen Umständen entstanden und einen sensiblen Umgang erfordern. „Wir sind wieder in der Konservendose“, sagt ein Farmarbeiter namens Kanaje. „Ich werde von dort nicht sprechen, aber ich bin dort wieder.“

■ Die Ausstellung „Was wir sehen. Bilder Stimmen Rauschen. Zur Kritik anthropometischen Sammelns“, bis 6. Juli im Atrium des Pergamonpalais, Humboldt-Uni.

■ Abschlussveranstaltung mit Britta Lange und Regina Sarreiter zu den „sensiblen Sammlungen“ am 5. 7. um 17 Uhr

■ Literatur: „Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot“, hrsg. von Margit Berner, Anette Hoffmann, Britta Lange, bei Fundus/Ilinx-Kollaborationen, Hamburg 2011

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