Kunstform Musikalbum: Das Album lebt
Das Album ist viel mehr als Musik. Es verbindet Songs und Inszenierung. Und es ist auch vom Streaming der Songs nicht totzukriegen.
D ieses Jahr flogen erstmals prominente Zivilpersonen ins All. Was das mit dem Album als wichtigstem Format von Popmusik zu tun hat? Das Album ist ein Produkt des Space Age, des Raumfahrtzeitalters, das begann, als die Rüstungsindustrie nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 teilweise in Zivilwirtschaft überführt wurde. Plötzlich war Vinyl kein kriegswichtiges Material mehr, und die Geräte zur Feindaufklärung konnten auch zur Produktion von rührseligen Songs verwendet werden.
Nachdem die Flegeljahre des Pop in den 1950ern von 7-Zoll-Singles geprägt waren, die die Halbstarken-Gefühlswelt in zweieinhalb Minuten zusammenfassten, begann die Musikindustrie seit den 1960ern, ihre Stars mit 12-Zoll-Langspielplatten, Alben, zu bewerben. In der Musik wurde oftmals die Zukunft besungen und auf den Covers in klebrigen Science-Fiction-Träumen anschaulich illustriert. Zunächst bestanden Alben aus lieblos gekoppelten Songs, einigen Hits und vielen Nieten.
Mit dem Aufkommen der Hippiekultur entwickelte sich gegen Ende der 1960er das Album als gängige Form der Promotion. Fotos, Linernotes, Songtexte wurden mit abgedruckt. Popmusik bekam eine synästhetische Note. Auf einem Album ließen sich zusammenhängende Geschichten erzählen. Ein Weltkulturerbe, das viel zu wenig gewürdigt wird. Beweis ist die Überwältigungstaktik des Konzeptalbums „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ der Beatles.
Die Songs sind längst im kollektiven Popgedächtnis eingebrannt. Wir assoziieren damit automatisch das Wachsfigurenkabinett und die Fotocollage auf dem Cover. Trotz Ölkrise, sinkender Absatzzahlen und trotz des Formatwechsels von LP auf CD blieb das Album bis Ende der 1990er die lukrativste Vermarktungsquelle. Erst die Digitalisierung änderte dies und beschleunigte eine Fragmentarisierung und Zerstückelung von Popmusik. Tourneen und Konzerte wurden in der Folge wichtige Absatzquellen.
Corona hat diese Entwicklung unterbrochen. Selbst heute, wo das Streaming von Songs kommerzielle Gewinne abwirft, wird dies auch durch das Abspielen vollständiger Alben erzielt. Die freie Verfügbarkeit von Millionen Songs im Netz, ja selbst die Mikropromotion von Snippets, markanten Ausschnitten, die auf Plattformen wie Tiktok stattfindet, hat dem Album als Kunstform kaum etwas anhaben können.
Im Gegenteil, ein Retrovinylboom treibt die seltsamsten Blüten und wird seit Längerem inszeniert wie Bausparverträge. Musik ist mehr als nur Vermarktung, sie ist ein Massenmedium, das weiterhin zur Verständigung beiträgt. Und das Album – nach wie vor die engste Verbindung von Songs, Inszenierung und Crosskulturalisierung – es lebt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen