Serpil Midyatlı über Migration: „Integration gab es nicht“

Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wird 60. Ein Gespräch mit Serpil Midyatlı, Schleswig-Holsteinische SPD-Chefin und Gastarbeiterkind.

Eine Frau mit schwarzen Haaren und Brille, von der Sonne beschienen

Sagt von sich selbst, sie müsse nicht immer die erste sein: Serpil Midyatlı Foto: Axel Heimken/dpa

taz: Würden Sie sich selbst als Gast­ar­bei­te­r:in­nen­kind bezeichnen, Frau Midyatli?

Serpil Midyatli: Ich bin mit diesem Begriff aufgewachsen. Als ich ganz klein war, habe ich mich immer darüber gewundert. Gast zu sein ist ja etwas Besonderes, gerade in der türkischen Kultur werden Gäste auf Händen getragen. Ich habe mich gefragt: Wenn wir Gäste sind, warum behandelt man uns dann so schlecht?

Und wie ist heute Ihr Verhältnis zu der Bezeichnung?

Jetzt bin ich Schleswig-Holsteinerin. Die Identitätsfrage ist für mich endgültig geklärt. Das muss ja aber jeder mit sich selbst ausmachen.

Serpil Midyatlı

46, ist Landeschefin der SPD Schleswig-Holstein, Fraktionsvorsitzende im Kieler Landtag und stellvertretende Bundesvorsitzende. Sie ist in Kiel geboren und hat dort verschiedene Unternehmen geleitet, darunter das Restaurant der Familie. Bei der Landtagswahl 2022 tritt sie für den Wahlkreis Kiel-Ost an.

Am Samstag ist der 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbe­abkommens. Was bedeutet das Abkommen für Sie und Ihre Familie?

Das Abkommen hat unser Leben komplett verändert. Angefangen mit meinem Vater. Er ist Analphabet und hat keine richtige Schulbildung gehabt. Mit der Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, und hier zu arbeiten, hat er uns ein ganz anderes Leben ermöglicht, was die Bildungschancen und Teilhabe angeht. Mein Leben und das meiner Familie wäre ganz anders geworden, wenn wir in sein Dorf zurückgekehrt wären, aber mein Papa hat sich bewusst dagegen entschieden.

Warum?

Es gab ja immer wieder Zeiten, in denen viele in die Türkei zurückgekehrt sind. Da waren meine Geschwister und ich aber immer in wichtigen Phasen, erst in der Grundschule, dann in der weiterführenden Schule. Da wollten unsere Eltern uns nicht rausnehmen. Und irgendwann haben sie sich entschieden, dass sie nicht mehr zurückkehren werden, weil Deutschland und Schleswig-Holstein unsere Heimat geworden ist.

Ihre Eltern sind dann Unternehmer geworden, richtig?

Mein Vater kam als Schweißer und hat in Kiel auf der Werft, HDW, angefangen. Er musste aber den Beruf wechseln, weil er eine Allergie bekommen hat. Er hat dann auf dem Bau gearbeitet und sich später als Bauunternehmer selbstständig gemacht, als einer der ersten Türken in Schleswig-Holstein. Später sind wir mit meiner Mutter in die Gastronomie gegangen. Mittlerweile sind meine Eltern aber in der wohlverdienten Rente.

Sie sind in Kiel-Mettenhof aufgewachsen, einer Hochhaussiedlung, in der viele Menschen mit niedrigem Einkommen leben. Wie war das für Sie?

In Mettenhof groß zu werden, war toll. Man ist total schnell im Grünen, weil der Stadtteil am Rand von Kiel liegt. Wir hatten alle Möglichkeiten, uns sportlich zu betätigen und unterwegs zu sein. Wir haben aber auch als Kinder schon verstanden, dass man es mit dieser Postleitzahl bei vielen Jobs mit einer Bewerbung gar nicht versuchen braucht, weil man sowieso nicht genommen wird.

Hatten Sie überhaupt das Gefühl dazuzugehören?

Sehr lange wurde mir das Gefühl vermittelt, ich sei kein normales Kind, sondern irgendwie anders. Das fing in der Grundschule an, wo die Gastarbeiterkinder im Deutschunterricht ganz nach hinten gesetzt wurden, um zu malen, weil davon ausgegangen wurde, dass wir nicht Deutsch lernen müssen. Wir würden ja eh zurückkehren. Integration gab es da nicht.

Was bedeutet Integration denn für Sie?

Bei dem Thema Integration geht es für mich um Beteiligungsmöglichkeiten und gleiche Chancen, insbesondere in Bezug auf Bildung, Arbeit, aber auch kulturelle und politische Teilhabe. Es geht nicht darum, dass wir uns alle lieb haben und alle Unterschiede verschwinden. Es geht darum, dass Herkunft kein Schicksal ist. Ich habe immer Länder bewundert, in denen sich Menschen, die dort noch nicht lange leben, schon nach kurzer Zeit als Teil des Ganzen fühlen und zum Beispiel ganz selbstverständlich sagen: Ich bin Kanadierin. Wir in Deutschland suchen dagegen immer noch nach Begriffen, wie man mich am besten nennt, weil nur Deutsche oder nur Schleswig-Holsteinerin geht ja nicht. Da braucht es immer noch einen Zusatz. Das ist das Problem: Wir reden zu viel über Begrifflichkeiten und Trennendes. Das macht es schwerer, sich zu integrieren.

Was macht das mit Ihnen, dass bis heute so über Sie gesprochen wird?

Es gibt zwei Wege, damit umzugehen: Entweder Sie werden wütend, weil Veränderungen so lange dauern. Oder Sie nehmen gewisse Sachen mit Humor. Ich habe mich für Humor entschieden, alles andere würde mir zu viele Freiheiten nehmen und macht Falten. Es hat sich ja auch schon viel verbessert.

Was denn?

Mittlerweile ist allen klar, dass wir ein Einwanderungsland sind, dass wir divers sind und unsere Vielfalt auch eine Chance ist. Die Parlamente werden langsam bunter und vielfältiger. Natürlich muss sich noch viel verbessern. Wir müssen die interkulturelle Öffnung der Verwaltung voranbringen, da noch diverser werden. Wir sind noch nicht am Ziel.

Die Parlamente spiegeln bis heute nicht wirklich die Realitäten der Gesellschaft wider. Auch nicht, wenn es um den Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte geht.

Aber es tut sich was. Die neue SPD-Bundestagsfraktion ist deutlich vielfältiger und jünger geworden. Und Aydan Özoğuz, Kind türkischer Einwanderer, ist gerade zur stellvertretenden Bundestagspräsidentin für die SPD gewählt worden.

Sie selbst hätten ein Zeichen setzen und zur kommenden Landtagswahl antreten können. Stattdessen haben Sie mit Thomas Losse-Müller einem recht unbekannten Mann den Vortritt gelassen.

Ich bin davon überzeugt, dass wir uns als SPD breiter aufstellen müssen und es mehr Personen geben muss, die in der ersten Reihe stehen. Mit mir gibt es keine One-Woman-Show. Das ist mein Anspruch, seit ich Landesvorsitzende geworden bin. Und ich finde, das habe ich mit der Spitzenkandidatur auch umgesetzt. Als Fraktionsvorsitzende, Landesvorsitzende und stellvertretende Parteivorsitzende habe ich weiterhin viel Verantwortung. Ich bin in allem immer die Erste gewesen, die erste Muslima im Kieler Landtag, die erste weibliche Landesvorsitzende der SPD Schleswig-Holstein, die erste muslimische Fraktionsvorsitzende. Ich muss nicht immer die Erste sein.

Mit Ihrer eigenen Kandidatur hätten Sie Ihre Themen Familie und Integration im Wahlkampf in den Vordergrund stellen können.

Natürlich setze ich auch als Landesvorsitzende meine Themen im Wahlkampf. Zudem sind Thomas und ich uns dabei auch sehr einig. Es ist so, dass wir uns beim Thema Integration, Migration und Flucht in Schleswig-Holstein – abgesehen von den Faschos – über Partei­grenzen hinweg einig sind.

Sie hatten die Diversität in der Verwaltung angesprochen. Wie wollen Sie die erreichen?

Das ist ja kein Hexenwerk. Oftmals wird gesagt, es würden sich ja keine Mi­gran­t:in­nen auf Ausbildungsplätze bewerben. Aber man muss schon auch gucken, wo man die Schülerinnen und Schüler anspricht. Wir wissen, dass es wichtig ist, dafür in Quartiere wie Mettenhof zu gehen. Das ist alles erforscht. Wir haben wirklich keine Erkenntnisdefizite. Wir haben aber ein Umsetzungsproblem.

Könnte eine Quote für Menschen mit Migrationsgeschichte im öffentlichen Dienst da helfen?

Bei Gleichstellungsthemen konnten wir viele Ziele am Ende nur über Quoten erreichen. Aber bei der Integration hoffe ich, dass wir sie gar nicht brauchen. Mir wäre es lieber, wenn wir es schaffen, junge Menschen früh anzusprechen und auch in den Personalabteilungen eine Sensibilität zu schaffen. Mein Ziel ist, dass nicht mehr der Name oder die Postleitzahl darüber entscheiden, ob man zum Bewerbungsgespräch eingeladen wird oder nicht.

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