Nachruf auf Doğan Akhanlı: Ein Autor auf Wahrheitssuche
Im Werk von Doğan Akhanlı gab es viele Bezüge zur Türkei und zu Deutschland. Beide Länder haben ihn geprägt.
D oğan Akhanlı ist tot. Er starb nach kurzer, schwerer Krankheit am 31. Oktober. Sein Tod hat eine ungeheure Leere hinterlassen. Akhanlı fehlt. Ich habe die Nachrufe in den deutschen und türkischen Medien gelesen: „Doğan 2018 ausgezeichnet mit dem Toleranzpreis für Demokratie und Menschenrechte„, „Doğan Träger der Goethe-Medaille 2019“, „Die Würdigung des literarischen Werkes. Zum Beispiel „Madonnas letzter Traum“.
Die großartige Zeitreise von der Gegenwart nach Berlin und Istanbul in der Zeit des deutschen Faschismus, in welcher sich Fiktion und Wirklichkeit verweben. Doğan auf der Suche nach der Jüdin Maria Puder, der Protagonistin in Sabahattin Alis Roman „Madonna im Pelzmantel“. Ali, ein linker Oppositioneller, wurde 1948 im türkisch-bulgarischen Grenzgebiet ermordet.
2005 erschien das Buch in der Originalfassung. Erst 2019 folgte die deutsche Übersetzung. Literatur und das Schreiben waren für Doğan Instrumente, um sich mit der Gewalt in der Menschheitsgeschichte auseinanderzusetzen. Mit dem Völkermord an den Armeniern, dem Holocaust, aber auch mit rassistischen Morden in der Bundesrepublik wie in Solingen 1993.
Ein Flüchtlingsschiff, dem Schicksal überlassen
In Madonnas letztem Traum stoßen wir auf die „Struma“, ein Flüchtlingsschiff mit fast 800 Juden an Bord, das 1942 in Istanbul anlegte. England verweigerte ihnen die Einreise nach Palästina, die Türkei ließ die Menschen nicht an Land. Das Schiff wurde mit einem Motorschaden aufs offene Meer geschleppt und seinem Schicksal überlassen. Von einem sowjetischen U-Boot mit einem Torpedo angegriffen, sank die „Struma“ und riss alle Menschen in den Tod. Unweigerlich denke ich an das, was heute an den EU-Außengrenzen mit Flüchtlingen passiert.
Doğan steht für eine ganze Generation in der Türkei. Politisiert als Jugendlicher in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Erste Festnahme und Folter wegen des Versuchs, eine linke Zeitschrift zu kaufen. Dann der Militärputsch 1980, Verschleppung Hunderttausender. Untergrund, erneute Verhaftung 1985. Mit Frau und Kind zwei Jahre im berüchtigten Gefängnis Metris. 1988 Verurteilung zu 20 Jahren Haft.
1991 gelingt ihm die Flucht nach Deutschland. Köln. Konfrontation mit einem Deutschland, das nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung 1989 die rassistischen Anschläge von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen erlebt. Er lernt Deutsch, liest wie ein Besessener und schreibt. Der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden und der Völkermord an den Armeniern sind wiederkehrende Motive in seinem Werk.
Am Flughafen verhaftet
Er kann weder zur Beerdigung seiner Mutter noch seines Bruders in die Türkei reisen. Als der Vater 2010 schwer erkrankt, fliegt er dennoch. Offiziell liegt nichts mehr gegen ihn vor. Dennoch wird er am Flughafen verhaftet. Vier Monate Untersuchungshaft. An der Beerdigung seines Vaters darf er nicht teilnehmen.
Zusammen mit dem Verleger Ragıp Zarakolu – auch er wie so viele andere mittlerweile im politischen Exil – trafen wir uns nach Doğans Freilassung in Istanbul in einem Bosporus-Restaurant. Wir lachten viel, trotz der Schrecken des Regimes. Er kehrt nach Köln zurück. Auch über seine Verhaftung in Spanien 2017, als die Türkei erfolglos per Interpol seine Auslieferung beantragte, musste er schmunzeln. „Ein Glücksfall“.
„Ich bin von einem Aktivisten, der glaubte, er wisse alles Wesentliche über die Welt, zu einem Menschen geworden, der mehr Fragen als Antworten hat“, sagte Doğan in einem Interview. Es war kein Glaubenssatz, sondern seine Alltagspraxis. Er hat zugehört, war neugierig wie ein Kind, hatte die Gabe, über sich selbst lachen zu können. Wenn man mit Doğan befreundet war, hat man an das Gute im Menschen geglaubt. Ich erzählte ihm, dass dereinst die „Struma“, die Verbrechen in Kurdistan und der Völkermord an den Armeniern in den türkischen Schul- und Geschichtsbüchern stehen werden. Und die Madonnas werden zur Pflichtlektüre. Er lachte.
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