Rückzug vom Rest der Welt: Im Schneckenhaus
Wir sind erschöpft, passen nicht mehr gut auf. Über eine Krise, vor der sich nicht mal die wohlhabendste Parallelgesellschaft verstecken kann.
E s gibt zwei Varianten einer kleinen Welt. Die erste ist die, in der ich aufwachsen durfte – auch, weil ich das Glück des richtigen Ausweisdokuments hatte. Diese Welt ist klein, weil sie Distanzen überbrückbar macht: Du steigst in ein Flugzeug und bist in acht Stunden bei deiner Familie, du lernst, was dich mit Menschen verbindet, die du nie getroffen hast, und was Ostwind von Westwind unterscheidet.
Du findest Worte zwischen Sprachen für Zustände, die dir bisher unbeschreiblich erschienen. Dein Leben wird voller und weiter, als du es allein jemals zustande gebracht hättest, weil fast alles sich in deinen Radius hineinbewegt. Du trägst diese kleine Welt in deiner Manteltasche. Und nein, sie ist längst nicht gerecht, aber es fühlt sich ein bisschen so an, als könnte sie auf dem Weg dahin sein.
Die zweite Variante der kleinen Welt ist gefährlich. Das ist die Welt, die sich zurückzieht vor dem Rest, die ihre Rollläden runterlässt und große Spiralen aus Stacheldraht auf Mauern legt. Die sich selbst abschließt und dich in ihr. Sie sickert in unseren Alltag, tröpfchenweise. Ich schenke ihr zu wenig Aufmerksamkeit, fürchte ich, ich passe nicht mehr gut genug auf. Ich lese keine Nachrichten, weil ich längst weiß, dass die Welt schlimm ist.
Ich treffe den Nachbarn im Treppenhaus, er trägt den Biomüll nach unten, aber er weiß nicht, wo er seine Erschöpfung entsorgen soll. Wer müde ist, kann kaum wach bleiben, geschweige denn wachsam. Unter solchen Umständen hat Nationalismus extrem gute Chancen, genau wie das, was er mit sich zieht.
Ich lese eine Studie über Nationalismus in Pandemiezeiten, die feststellt, dass die wohl beunruhigendste Welt nach Corona eine wäre, in der nationale und ideologische Grenzen deckungsgleich sind. Dass Nationalismus und ideologische Spaltung zu mehr Feindseligkeiten führen würden und die globalisierte Welt dann kaum noch Überlebenschancen hat.
Ich schreibe eine Einkaufsliste und ich schreibe eine Weihnachtsgeschenkliste und ich schreibe auf einen Zettel: Angela Merkel fordert im Kampf gegen die vierte Welle einen „Akt nationaler Solidarität“. Nationale Solidarität gegen eine globale Pandemie. Noch immer gibt es keine Patentfreigabe der Impfstoffe und keinen international abgestimmten Plan zur Virusbekämpfung.
Dafür singt Lou Bega für „Grenzschützer“ in Polen, Südafrika wird für die Meldung von Omikron bestraft, in Sachsen stehen Rechtsextreme mit Fackeln vor dem Wohnhaus einer Politikerin, die neue Regierung kuschelt mit der Bild-Zeitung – diese Dinge hängen zusammen, sie schließen die falschen Türen und reißen die gefährlichsten weit auf. Innerhalb von Landesgrenzen und darüber hinaus. Während wir mitten in Krisen stehen, vor denen sich nicht mal die wohlhabendste Parallelgesellschaft verstecken kann.
Ich krame jetzt nach der Welt in meiner Manteltasche und finde ein leeres Schneckenhaus.
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