: Osteuropa schaut auf Berlin
Wie positioniert sich die neue deutsche Regierung in der Außen- und Verteidigungspolitik? Das wird auch in den baltischen Staaten, in Polen und in Tschechien aufmerksam beobachtet
Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gründete die BRD ihre Armee. Große Teile der Ausrüstung bezog die junge Bundeswehr aus dem Ausland, griff aber auch auf Waffen aus deutscher Produktion zurück – zum Beispiel auf das MG 42, das schon bei der Wehrmacht im Einsatz war. ↓
Im Kalten Krieg entwickelte sich die Bundeswehr zur größten westeuropäischen Armee. Für einen möglichen Landkrieg mit dem Warschauer Pakt standen ihr allein knapp 2.500 Kampfpanzer vom Typ Leopard 1 zur Verfügung. Vom Nachfolger Leopard 2 hat sie aktuell weniger als 300. ↓
In den 1980ern modernisierten die USA ihr Atomwaffen arsenal und stationierten Pershing-II-Raketen in der BRD. Die Verlegung ging auf den Nato-Doppelbeschluss zurück, der Bundestag stimmte trotz großer Proteste zu. Heute sind keine Atomraketen mehr im Land, Atombomben zum Einsatz durch Kampfflugzeuge aber immer noch. ↓
Nach dem Kalten Krieg verschob sich der Fokus von der Landesverteidigung hin zu Interventionen im Ausland. Die Beteiligung am Kosovokrieg stellte 1999 den ersten Kampfeinsatz ihrer Geschichte dar. Mit Tornado-Kampfjets griff die Luftwaffe auf Beschluss der rot-grünen Regierung Ziele in Jugoslawien an.↓
Der nächste Schritt könnte in der neuen Legislaturperiode die Bewaffnung der Bundeswehr mit Drohnen vom Typ Heron TP sein – nach über zehn Jahren Debatte und Protesten. Die Verheißung der neuen, ferngesteuerten Waffengeneration: mehr Schlagkraft, ohne eigene Soldat*innen einem Risiko auszusetzen.
Aus Warschau und Prag Gabriele Lesser und Alexandra Mostyn
In Estland, Lettland und Litauen werden die Verhandlungen zur Ampelkoalition mit großer Hoffnung, aber auch Sorge verfolgt. Wird Deutschlands neue Außenpolitik es schaffen, die EU und die Nato zusammenzuhalten und Ausreißer wie Polen zurück in die EU-Rechtsgemeinschaft zu holen? Sicherheitspolitisch kann es nichts Schlimmeres für diese kleinen Staaten geben, als sich plötzlich eingeklemmt zu sehen zwischen den unberechenbaren Nachbarn Belarus und Russland im Osten und einem ebenfalls unberechenbaren Polen im Südwesten. Immerhin sieht Polens Premier einen von der EU angeführten Dritten Weltkrieg heraufziehen, gegen den sich Polen verteidigen müsse.
Schon heute werden die baltischen Republiken immer wieder Opfer von Cyberangriffen, deren Spuren nach Russland und China weisen. Auch die Verletzung der Lufthoheit Litauens, Lettlands und Estlands durch russische Kampfflieger gehört zum Alltag und sorgt für höchste Wachsamkeit. Doch wie schwach die EU und die Nato tatsächlich sind, zeigt die völlig verfahrene Migrationspolitik, die in der Auseinandersetzung mit Belarus weder eine Lösung noch einen wirksamen Schutz anzubieten hat.
Polen, Litauen und Lettland ziehen an ihrer Grenze zu Belarus Stacheldrahtzäune hoch. Anders glauben sie dem hybriden Krieg, den der selbsternannte Präsident Alexander Lukaschenko seit einigen Monaten gegen die EU führt, nicht standhalten zu können. Jeden Tag versuchen über die belarussische Hauptstadt Minsk Tausende Flüchtlinge aus dem Irak und Iran, aus Afghanistan und anderen Krisengebieten der Welt in die Europäische Union zu kommen.
Ziel Lukaschenkos ist die Destabilisierung der EU. Er will Brüssel dazu zwingen, die gegen ihn und ganz Belarus verhängten Sanktionen wieder aufzuheben. Unmittelbar Leidtragende sind die direkten Nachbarländer Polen, Litauen und Lettland sowie die belarussischen Oppositionellen, die diese Länder bislang aufgenommen und vor Gefängnis und Verfolgung gerettet haben.
„Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“, sagte 2011 der damalige Außenminister Polens Radosław Sikorski in Berlin. Als wichtigste europäische Wirtschaftsmacht sei die Bundesrepublik in der Pflicht, eine Führungsrolle bei den notwendigen Reformen in Europa zu übernehmen, so Sikorski damals. Viele Osteuropäer in der EU denken bis heute so wie er. Doch die jetzt in Polen Regierenden würden dies weit von sich weisen. Sie bringen sich lieber als Erben der amerikanischen Atomsprengköpfe ins Spiel, die einige Ampelpolitiker gerne aus Deutschland entfernen wollen.
Von den Sorgen, die die Staaten an den Außengrenzen der EU plagen, ist man in Tschechien etwas weiter entfernt. Doch auch in Prag sprechen viele schon lange von einem hybriden Krieg, den der Kreml in ihren Augen in Tschechien führt. Jahr um Jahr mehren sich die virtuellen Angriffe auf die staatliche Verwaltung, auf Krankenhäuser oder Energieträger. Aber auch auf die private Wirtschaft. „Hinter 90 Prozent der Cyberangriffe steht ein fremder Staat, meist Russland oder China“, warnt das Nationale Amt für Cyber- und Informationssicherheit.
Konfliktstoff mit Russland gibt es genug: Wie auch seine Nachbarn im Nordosten hat sich Tschechien im Ukrainekrieg klar auf die Seite der Ukraine gestellt. Und als die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im Juni dieses Jahres der Einladung des tschechischen Senatspräsidenten Miloš Vystrčil nach Prag folgte, wurde sie dort als legitime Präsidentin Belarusslands empfangen.
Wie deutsche Untätigkeit aussehen kann, vor der schon Polens Ex-Außenminister Sikorski warnte, durfte Tschechien dieses Frühjahr erfahren. Da wurde bekannt, dass der russische Militärgeheimdienst 2014 einen Anschlag auf ein tschechisches Waffenlager verübt hatte, bei dem zwei Menschen starben. Man hätte sich schon etwas mehr Solidarität von Deutschland und der EU erhofft als reine Gesten, ärgern sich tschechische Diplomaten bis heute. Nicht wenige Kommentatoren hatten gehofft, der Anschlag würde für Berlin die Gaspipeline Nord Stream 2 in Frage stellen, die russisches Gas nach Deutschland befördern soll.
In Prag bildet sich derzeit eine neue Regierung. Konkrete Erwartungen an eine Ampelkoalition in Berlin äußerten deren Vertreter bislang nicht. Allerdings zeichnet sich ab, wie sich Tschechien außenpolitisch positionieren wird. Der designierte Außenminister Jan Lipavský sieht sein Land verankert in Nato und EU. Er will auch die Nato-Vorgabe erfüllen, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär auszugeben. Lipavský erklärte, er sei gegen Versuche, sich bei Russland und China einzuschmeicheln und im wirtschaftlichem Interesse grundlegende Werte der tschechischen Außenpolitik aufzugeben.
Anders als Polen stellt Tschechien die Bindung an Deutschland nicht infrage. Die neue Regierung werde „einen außenpolitischen Schulterschluss mit Deutschland sicherheitspolitischen Alleingängen anderer osteuropäischer Staaten vorziehen“, so der Journalist und Sicherheitsexperte Jaroslav Spurný. Egal, wie die Ampelverhandlungen ausgehen: Deutschland spielt als Partner Tschechiens eine Schlüsselrolle.
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