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„Wir müssen die Politik­beratung neu aufstellen!“

Wissenschaftliche Daten und Fakten sind für die Bewältigung von Krisen unerlässlich. Die Corona­pandemie zeigt, dass bei der Beratung von Politikern noch kräftig nachgebessert werden kann

Hochwasserkatastrophe in Mayschoß an der Ahr. Wissenschaftler warnten schon früh vor den Folgen einer Klima­veränderung Foto: Frank Schultze

Von Manfred Ronzheimer

Zurück in die Zukunft: Zwei Energieforscher setzen sich in eine Zeitmaschine. Sie plagt die Frage: „Wie sind wir mit dem Klimawandel so in den Schlamassel geraten? Wann und wie ist alles schiefgelaufen – und hätten wir es anders machen können?“ Sie reisen in die Vergangenheit, um die Geschichte zu ändern und Fehler der Energiepolitik zu beheben. Und sie springen ins Morgen, um Zukunftswissen zu sammeln und fortschrittliche Technologien zurückzubringen. Wissenschaftliche Politikberatung in ihrer futuristischen Variante.

Zu dieser virtuellen Zeitreise lädt in der kommenden Woche die von den europäischen Wissenschaftsakademien eingerichtete Agentur für wissenschaftliche Politikberatung Sapea (Science Advice for Policy by European Academies) ein. Im Rahmen der „Berlin Science Week“ setzen sich am 6. November in einer Veranstaltung im Berliner Museum für Naturkunde zwei ihrer renommierten Experten in die Zeitkapsel: Professor Nebojša Nakićenović, wissenschaftlicher Chefberater der Europäischen Kommission für Energiefragen, und Professor Peter Lund, Vorsitzender der Sapea-Arbeitsgruppe für Europas Energiewende.

„Wissenschaftliche Erkenntnisse sind für die Bewältigung der wichtigen Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute steht, von der Einschätzung der gesellschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 bis zur Abwendung eines katastrophalen Klimawandels, von entscheidender Bedeutung“, begründet Sapea-Sprecher Toby Wardman das Anliegen der Forscher, ihre Erkenntnisse schneller in den politischen Raum hineinzutragen.

Die letzten Expertisen für die EU-Kommission behandelten die biologische Abbaubarkeit von Kunststoffen in freier Umgebung, die Anpassung an die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und ein nachhaltiges Lebensmittelsystem für die EU. „Im Moment bereiten wir uns darauf vor, in zwei großen Bereichen Ratschläge zu erteilen“, erklärt Wardman gegenüber der taz. Es geht um die Themen „Strategisches Krisenmanagement für die EU“ und die Verbesserung der Krebsfrüherkennung in Europa.

Vielleicht treffen die Zeitreisenden im Jahr 1988 auf den Hamburger Klimaforscher Klaus Hasselmann, der damals noch nicht ahnen konnte, dass er für seine Modellberechnungen 2021 den Nobelpreis für Physik erhalten sollte. Damals schwante dem jungen Max-Planck-Forscher bereits: „In 30 bis 100 Jahren, je nachdem, wie viel fossiles Brennmaterial wir verbrauchen, wird auf uns eine ganz erhebliche Klimaänderung zukommen“, so Hasselmann in einem Zeitungsinterview. Wie anders wäre die Geschichte verlaufen, hätte es damals eine funktionierende Politikberatung gegeben, mit der die Klimawarnungen der Forscher politische Kurskorrekturen angestoßen hätten.

Heute ist man klüger als damals, aber noch immer nicht klug genug, um zu wirksamem Handeln zu gelangen. Der Graben zwischen wissenschaftlichem Faktenangebot und politischer Nutzungsbereitschaft ist immer noch groß. Auch in Deutschland wird, gerade nach den Erfahrungen der Coronapandemie, über Verbesserungen der wissenschaftlichen Politikberatung nachgedacht.

„Wir müssen die Politikberatung neu aufstellen!“, lautet die Lehre, die der Chef des Berliner Uni-Klinikums Charité, Heyo K. Kroemer, aus der Bewältigung der Covid-Krise zieht. In einem Beitrag für die FAZ stellte er fest, „dass sich die steigende Nachfrage nach Beratung nicht automatisch in eine höhere Wertschätzung wissenschaftlicher Ar­beit übersetzt [habe] oder gar in größeres Vertrauen in die Ratschläge und Empfehlungen der Fachleute“. Der Prozess wissenschaftlichen Arbeitens, der kein endgültiges Wissen produziert, sondern eine Bandbreite unterschiedlicher und teils widerstreitender Theorien und Praxisansätze, verwirre Politik und Öffentlichkeit eher.

„Letztlich unterminiert die unterstellte Beliebigkeit das Vertrauen in die Demokratie, denn sie befeuert Vorurteile über politisch Handelnde“, befürchtet der Mediziner. „Der Zustand der wissenschaftlichen Politikberatung und das Verhältnis der Politik zur Wissenschaft in Deutschland sind also ein ernsthaftes Problem – nehmen wir es auch ernst“, unterstreicht Kroemer.

Eine seiner Empfehlungen mündet für Deutschland in die Schaffung einer „dauerhaft bestehenden, interdisziplinären Struktur zur Politikberatung“, die gerade in Krisenzeiten schnell reagieren und fundierten Rat bieten kann. Als Vorbild könne die britische „Scientific Advisory Group for Emergencies“ (Sage) dienen. Sie besteht aus einer Kerngruppe von 20 bis 30 Wissenschaftlern und kann über themenspezifische Untergruppen auf den Sachverstand von bis zu 300 Experten zugreifen.

Diesem Vorschlag schließen sich auch die beiden Berliner Wissenschaftler Stefanie Molthagen-Schnöring und Jan Wöpking an, die in einer aktuellen Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung zehn Empfehlungen für „Gute wissenschaftliche Politik­beratung nach der Pandemie“ erarbeitet haben. „In der Pandemie ist Wissenschaft politischer und Politik wissenschaftlicher geworden“, stellen sie fest. Dies sei eine Chance, denn wissenschaftliche Politik­beratung werde für die Bewältigung der kommenden Herausforderungen, insbesondere der Klimakrise, „essenziell“ sein. „Die Aufforderung „Listen to the Science“ der Fridays-for-Future-Bewegung bringt das auf den Punkt“, so die Autoren. Es brauche aber zur Schaffung eines neuen Modus der Politikberatung eine „verstärkte Reflexion und Sensibilisierung darüber, wie Wissenschaft qualitätsgesichert beraten kann, wenn sie unter dem extremen Zeit- und Handlungsdruck einer Krise nicht auf den etablierten Qualitätssicherungsmechanismus Peer Review zurückgreifen kann, schlicht weil das viel zu lange dauern würde“. Das Consulting muss schneller werden.

Der Prozess wissen­schaftlichen Arbeitens verwirre Politik und Öffentlichkeit eher

Eine große Rolle für die neue Politikberatung wird der Einsatz von Datentechnologien, speziell der künstlichen Intelligenz (KI), spielen. Gerade die schnelle Pandemie-Reaktion in Deutschland leidet darunter, dass es wenig Echtzeitdaten über die Verbreitung des Virus gibt. Aber auch international herrschte „ein Mangel an international ausgerichteter datenbasierter Politikberatung“, hebt eine Studie der Potsdamer Politikwissenschaftlerin Sabine Kuhlmann für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hervor.

Nötig sei, die nationalen Datenbestände zu aggregieren und sie „in supranationale Entscheidungsfindungsprozesse innerhalb der Europäischen Union einzubringen“, so Kuhlmann. Es brauche in Europa ein „systematisches, grenzüberschreitendes Monitoring krisenrelevanter Daten“, die den betroffenen Entscheidungsträgern dann „niedrigschwellig zugänglich“ gemacht werden können. Quasi eine Datenunion.

Die sich rasch entwickelnden Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz werden nach Ansicht der Potsdamer Studie die wissenschaftliche Politikberatung in Zukunft stärker prägen. „Gegenwärtige Herausforderungen, wie die Vielfalt der Datenquellen, die Identifikation relevanter Daten und ihre angemessene, auf die jeweilige Zielgruppe abgestimmte Aufbereitung können durch den Einsatz KI-basierter Systeme wirkungsvoll adressiert werden“, erwarten die Autoren. Dies könne dabei helfen, die neuen und komplexen Herausforderungen wie die Klimakrise oder die Entwicklungen der Digitalisierung besser zu erkennen und zügiger anzugehen.

Damit wäre schon viel geholfen. Vielleicht wird es auch mit Technik­intelligenz einmal möglich, eine richtige Zeitmaschine zu bauen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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