Debatte um die Singularität der Shoa: Verstörende Erinnerungskultur
Darf man den Holocaust mit den Kolonialverbrechen vergleichen? Anmerkungen zu einer Debatte, die keine einfachen Antworten braucht.
I st das ein neuer Historikerstreit? Der australische Historiker Dirk Moses hat sich kritisch gegen einen neuen „Katechismus der Deutschen“ positioniert. Gegen eine selbstgerechte Erinnerung an den Holocaust, die andere Massenverbrechen verdrängen würde. Relativiert er damit den Holocaust? Oder setzt er damit gar das Geschäft der Holocaustleugner fort?
Worum geht es in diesem Streit? Um die Frage, ob es legitim ist, den Holocaust mit anderen Massenverbrechen zu vergleichen? Um die Singularität dieses Massenverbrechens? Oder um die Frage nach dem Zusammenhang von Erinnerungskultur und Politik?
geboren in Frankfurt, war Gründungsdirektor des Fritz Bauer Instituts und ist Direktor des Jüdischen Museums Hohenems in Österreich.
Es gibt recht banale Antworten auf die ersten beiden Fragen. Keine Deutung eines historischen Ereignisses käme je ohne einen Vergleich aus. Die Frage ist eher, welcher Vergleich einen Gewinn an Erkenntnis verspricht. Und natürlich ist jedes Ereignis singulär. Aber manche Ereignisse haben eine universelle Bedeutung, die dazu einlädt, sie zum Maßstab anderer Ereignisse zu machen. Das kann auch zur Falle werden.
Dirk Moses’ Text verstört auch viele Leser*innen, die seiner politischen Kritik am Missbrauch der Geschichte zur Legitimation staatlicher Identität durchaus etwas abgewinnen. Da ist etwas Überschießendes im Ton, selbst da, wo man ihm gern zustimmen würde. Aber haben deswegen seine Kritiker recht?
„USA-SA-SS“
Moses weiß, dass die Geschichte der Diskussion über den Holocaust eine Geschichte der politischen Kontexte ist. Er verweist auf populäre Gleichsetzungen, wie sie vor fünfzig Jahren gang und gäbe waren. Linksradikale haben damals auf Demos gegen den Vietnamkrieg – „USA-SA-SS“ gerufen.
Heute geben manche von ihnen bei der rechtskonservativen Presse in Deutschland den Ton an. Zu den lautesten Kritikern von Dirk Moses’ Polemik gehören gerade jene, die im Zeichen einer vollkommen banalisierten Totalitarismusthese von den „zwei deutschen Diktaturen“ reden und Kommunismus und Nationalsozialismus gleichsetzen.
Im linken politischen Spektrum hingegen wurde der Holocaust jahrzehntelang als bloßer Exzess des Faschismus und Kapitalismus, des Imperialismus oder Kolonialismus banalisiert. Dirk Moses bietet also ein neues Vergleichsparadigma an, dass sich bei näherem Hinsehen als gar nicht so neu erweist.
Die globale Migration zwingt Europa und die USA dazu, die Geschichte des Kolonialismus neu zu verhandeln, als etwas, das eben nicht fern von uns liegt. Es hat seine Spuren in die Erfahrungen von Menschen eingegraben, die Teil unserer Gesellschaften geworden sind. Seit die Geschichte des Kolonialismus und seines Erbes neu verhandelt werden müssen, wächst ihr eine neue Sprengkraft zu – in der politischen Aushandlung von öffentlicher Aufmerksamkeit und dem Recht auf Anerkennung.
Dabei hat auch der linke, sich neuerdings beunruhigend identitätspolitisch formierende Diskurs über die Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei seine blinden Flecken. Denn Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei waren keineswegs nur weiße Phänomene.
Der Völkermord an den Armeniern, die arabische Kolonisierung von Teilen „Schwarzafrikas“ und innerafrikanische Gewaltverhältnisse gehören in diese Geschichte ebenso wie der belgische Völkermord im Kongo, mit dem das 20. Jahrhundert der Völkermorde begann. Oder der Genozid der ruandischen Hutu an den Tutsi, der nicht zuletzt auch auf den Rassismus belgischer Kolonialherren zurückverweist.
Der Holocaust und die Kolonialgeschichte
Es ist legitim, Zusammenhänge zwischen Holocaust und Genoziden der Kolonialgeschichte herzustellen. Auch die Entwicklung traditioneller Judenfeindschaft zum eliminatorischen Antisemitismus lässt sich nicht ohne dessen Verbindung mit dem zeitgenössischen Rassismus erklären.
Aber damit erklärt sich der Holocaust noch lange nicht aus der Kolonialgeschichte. Genauso wenig lässt sich die internationale Verbreitung des Antisemitismus und seine Wirkung als Nationalisten aller Couleur verbindende Weltanschauung allein aus der Geschichte des Rassismus erklären. Moses selbst wirft in seiner Polemik das Kolonialismusparadigma kurzerhand hinter sich, wenn er davon spricht, „dass alle Genozide durch Sicherheitsparanoia betrieben werden“. Da wird es dann wirklich banal.
Gegen all diese Relativierungen haben sich die verschiedensten Wissenschaftler und politisch Engagierte in Deutschland nicht nur gewendet, um als „gute Menschen dazustehen“, wie Moses in denunziatorischem Gestus schreibt. Sie haben in schmerzhaften geschichtspolitischen Kämpfen nicht zuletzt miteinander gestritten.
Es gibt in Deutschland schon lange eine intensive Diskussion darüber, wie sehr sich Schuldbewusstsein auch in Selbstgerechtigkeit verwandeln kann, wenn man sich bequem im Stolz auf die eigene Erinnerungskultur einrichtet. Nein, es gab nicht nur die entglittene Walser-Rede und deren Auschwitz-Keulen-Rhetorik, es gab ernsthafte linke und liberale Kritik an sinnentleerten und politisch missbrauchten Gedenkritualen.
Erinnerungskultur ist nicht nur das Produkt einer erfolgreichen Sühnearbeit und Selbsterforschung. Und sie ist genauso wenig nur eine Vereinnahmung der Opfer im Zeichen eines neuen Nationalismus oder einer islamophoben Abwehr der neuen „Anderen“ Europas. Erinnerungskultur ist auf eine paradoxe Weise Resultat eben jener tatsächlichen Singularität des Holocaust. Es geht nicht darum, dieses Geschehen nicht erklären zu können. Es geht darum, dass hier tatsächlich etwas Negativ-Universelles gemeint war.
„Gegenrationalität“ und symbolisches Handeln
Das Verbrechen war aus der Perspektive seiner Opfer nicht verstehbar und nicht voraussehbar. Die Nationalsozialisten und die mit ihnen verbündeten Nationalisten vieler europäischer Staaten haben von den Juden tatsächlich nichts gewollt außer ihr Verschwinden von diesem Globus. Damit wurde jede ökonomische oder sonstige Berechenbarkeit des Handelns, das sogar in einer Beziehung zwischen Mörder und Opfer noch besteht, aufgekündigt.
Diese „Gegenrationalität“, wie Dan Diner sie genannt hat, macht aus dem Geschehen nichts Unerklärliches. Sie verweist allerdings auf ein Terrain, auf dem Historiker*innen sich ungern bewegen – dem des symbolischen Handelns.
Dirk Moses verweist selbst auf andere Genozide, deren Motivation einherging mit dem Vorgehen gegen Erbfeinde, auf Staatsgründungen, die „Opferhandlungen“ forderten an Gruppen, die die totale Kontrolle und die Homogenisierung eines nationalen Projekts gefährdeten.
Doch selbst das greift zu kurz. In den Juden fanden die Nationalsozialisten nicht nur einen „inneren Feind“, wie Jürgen Habermas vor Kurzem noch einmal gegen Dirk Moses zu Recht differenzierte, sondern vor allem einen negativen (universellen wie symbolischen, in aller Welt verstandenen) Ausdruck für den eigenen Anspruch auf Weltherrschaft. Etwas, das man freilich nur durch totale Vernichtung loswerden kann, etwas, das zugleich anders ist und doch untrennbar mit der eigenen (christlichen) Geschichte, der eigenen Existenz verbunden. Etwas, das an einem selbst „klebt“ und das gerade deswegen unbegrenzte, durch keine zivilisatorischen Schranken gemilderte Aggression wecken kann.
Diese kalte Aggression macht es möglich, dass die Begründung eines neuen Staats (der sich als ewig postulierte), die alte christliche Judenfeindschaft und der neue kolonialistische Rassismus, dass Gier und Gewinnstreben und die Sehnsucht nach totaler Kontrolle, dass all diese von manchen verabsolutierten Faktoren zu einer beispiellosen Mordtat radikalisiert wurden.
Die Juden als negatives und positives Faszinosum zugleich
Sie besitzt auch eine Rückseite, so wie der Antisemitismus eine andere Seite besitzt: den Philosemitismus. Die Juden als symbolische Spielfigur eigener Identität waren und sind negatives und positives Faszinosum zugleich. Und damit sind wir womöglich beim Kern der Auseinandersetzung um Dirk Moses’ Thesen. Es geht bei dem Konflikt um das Verhältnis der deutschen und europäischen Erinnerungskultur zum Staat Israel.
Es gibt nämlich noch eine weitere Relativierung des Holocaust, die derzeit eine besondere Konjunktur hat. Demnach erklärt sich der Holocaust allein aus dem Antisemitismus. Daraus folgt der Zirkelschluss, dass die einzige Möglichkeit, dass sich „solch ein Verbrechen“ nicht wiederhole, darin besteht, dass alle Juden sich in einem eigenen Staat und auf einem eigenen Territorium verteidigen können.
Doch der Holocaust lässt sich aus dem Antisemitismus allein genauso wenig erklären wie aus jenen anderen reduktionistisch banalisierten Ursachen. Und die nun auch deutsch-national grundierte Liebe zu Israel geht keineswegs auf eine tatsächliche Sorge um das Leben von Juden und Jüdinnen zurück. Das gilt auch für den mal christlichen, mal antimuslimischen „Zionismus“ der zu Philosemiten mutierten Antisemiten. Beides setzt die Geschichte des Missbrauchs von Juden als Symbol für politische Interessen fort, nur unter umgekehrten Vorzeichen.
Statt dem neuen Historikerstreit auf den Leim zu gehen, sollten wir uns tatsächlich mit der Singularität des Holocaust konfrontieren. Mit dem Holocaust ist tatsächlich etwas Neues in die Welt gekommen, das unsere Gewissheiten, auch unsere jüdischen Gewissheiten, erschüttert hat. Auch die Fiktion eines ethnisch-homogenen Nationalstaats, wie sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in den Bevölkerungstransfers nach 1918 und nach 1945 und nun seit 1989 blüht, sie ist auf diese Verunsicherung keine Antwort, sie ist Teil des Problems.
Jürgen Habermas hat einen unprätentiösen Vorschlag gemacht: Erinnerungskultur lässt sich nicht einfrieren. Sie muss sich um die Perspektive der Menschen erweitern, die Teil unserer Gesellschaft wurden und werden. Dass diese anderen Perspektiven auch unser Verhältnis zu Israel einschließen, mag manchen unbequem sein. Aber wenn es uns nicht gelingt, diese Perspektiven vor einem universalistischen Horizont zu verhandeln, dann haben unsere liberalen Demokratien keine Zukunft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen