Gedenken an die Toten von Babyn Jar: Wir haben nur Worte
In diesen Tagen wurde in Kiew der Toten des NS-Massakers von Babyn Jar gedacht. Bis heute wird dort ums Gedenken gerungen. Ein Ortsbesuch.
Wir haben aber nur Worte. Mit ihnen muss das Schweigen gebrochen werden. Das Schweigen ist „die zweite Schuld“, so nannte es der Publizist Ralph Giordano. Denn es verschweigt Unrecht und schützt die Täter. Aufgrund des Schweigens gibt es auch nicht so viele Leute in Deutschland, denen Babyn Jar etwas sagt.
In der Ukraine wiederum war das Gedenken an die Opfer auch schwierig.
Die Melnykovastraße hoch, die jetzt Illyenkastraße heißt – vom Lukyanivskaplatz aus kommend, auf dem brüchigen Trottoir. Dazu der Lärm. Busse, Trolleybusse, Lastwagen, Autos fahren über schleifenden Asphalt. Der Krach ist ein stetes Pulsieren. „Kiew ist immer laut“, sagt Hanna Hrytsenko. Sie geht den Weg, den die Jüdinnen und Juden Ende September 1941 gingen, hin zur Schlucht Babyn Jar, wo sie erschossen wurden. Damals soll es in den Straßen gespenstisch still gewesen sein, nur das Geräusch der Schritte, ein endloser Zug. So habe es eine Zeitzeugin erzählt. Anders als heute säumten da noch keine Hochhäuser die Straße. Babyn Jar lag am Stadtrand, dort wo auch Friedhöfe waren.
Nun jährte sich das Massaker an den Juden zum 80. Mal. In Kiew aber ist der Streit, wie der ungeheuren Wucht, die auf Babyn Jar liegt, angemessen gedacht wird, nicht zu schlichten. Der Streit übers Gedenken ist selbst Teil der Geschichte. Wem gehören die Toten?
Die Autorin Hanna Hrytsenko forscht zu Faschismus und der Neuen Rechten. Sie redet rasend schnell. Sie versucht, das Ungeheure zu benennen, das mit den Nazis anfing und sich als Unsagbares ins Gedächtnis der Menschen in der Ukraine gebohrt hat. Sie erzählt, dass die Deutschen nur zehn Tage vor dem jüdischen Exodus Kiew eingenommen hatten; erzählt, dass die Leute nur die Grausamkeiten der Sowjets kannten, deshalb dachten, die Nazis seien Befreier; sie erzählt, dass fünf Tage nach dem Einmarsch das Stadtzentrum in Flammen aufging; erzählt, dass die Nazis dies zum Anlass nahmen, die jüdische Bevölkerung aus der Stadt zu führen, direkt ins Verderben. Geplant war der systematische Massenmord der jüdischen Bevölkerung schon vorher.
Und dann. Dann.
Babyn Jar war eine enge Schlucht, einst Teil eines Flusstals, das durch Laufänderungen austrocknete, zweieinhalb Kilometer lang. Die Nazis sahen sofort, dass die Topografie für ihren Massenmord passte, den sie am 29. und 30. September 1941 kaltblütig durchführten. Binnen 36 Stunden waren mindestens 33.771 Kiewer Juden und Jüdinnen tot, erschossen, eine unvorstellbare Zahl. Sie geht aus dem Bericht der Sondereinsatzgruppe hervor. Einsatzgruppen folgten der Wehrmacht, Polizeieinheiten, die der SS unterstellt waren. Es waren die, die schossen. An den Rand der Schlucht wurden die Menschen geführt, mussten sich ausziehen, hinabsteigen, sich hinlegen mit dem Gesicht nach unten. Und dann. Dann.
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„Ich möchte weinen und weine nicht“, sagt eine Frau, die gefragt wird, was ihr Babyn Jar bedeutet. Überall seien damals Menschen erschossen worden. 1,5 Millionen in Osteuropa wird geschätzt. „Holocaust durch Kugeln“, heißt es.
Nicht nur die jüdische Bevölkerung Kiews wurde in Babyn Jar ausgelöscht. Wenige Tage zuvor hatten die Nazis in der Schlucht Menschen aus einer psychiatrischen Klinik erschossen, als wäre es die Generalprobe. Bis 1943 mordeten sie dort weiter. Roma, Kriegsgefangene, Behinderte, Partisanen, Zivilisten. Bis zu 200.000 Opfer soll es gegeben haben. Als die Deutschen 1943 auf dem Rückzug waren, wollten sie die Spuren verwischen. Zwangsarbeiter mussten die Leichen von Babyn Jar ausgraben und verbrennen. Dann wurden auch sie ermordet. Viele der Mörder aber haben nach dem Krieg unbehelligt in Deutschland weitergelebt.
Offiziell gedacht wurde der Opfer in der Sowjetunion, zu der die Ukraine nach 1943 wieder gehörte, nicht, obwohl es schon früh informelle Erinnerungsmomente gab. Abgelegte Blumen. Kerzen. Kleine Menschengruppen, die an Jahrestagen zur Schlucht gingen. Die Sowjets bauten lieber ein Stadion auf dem Gelände und fluteten die Schlucht mit Abraum aus einer Backsteinfabrik in der Hoffnung, das Flussbett so zu füllen. Es funktionierte nicht, ein Damm brach und riss 1961 bis zu 2.000 Menschen in den Tod. Erst 1976 nahmen die Sowjets die Stimmung der Bevölkerung auf und bauten ein monumentales Mahnmal, das an die ermordeten Kiewer „Sowjetbürger“ erinnert. Über das Auslöschen der jüdischen Bevölkerung kein Wort.
Nach und nach hätten, erzählt Hanna Hrytsenko, Menschen kleine Gedenkorte auf dem Gelände eingerichtet. Zeitweise habe sie bis zu 37 gezählt. Sie führt an einigen vorbei, die blieben und größer wurden. Jener Leiterwagen, der an die ermordeten Roma erinnert. Das kleine Denkmal, das den ermordeten Kindern gewidmet ist, Grabsteine, die an die jüdischen Toten erinnern, die Menora auf dem Hügel, hinter dem noch ein Rest der von Birken bewachsenen Schlucht ist. „In der Ukraine muss man die Sachen selbst in die Hand nehmen“, sagt Hrytsenko.
Bauen es auf Tote
Vor fünf Jahren, zum 75. Jahrestag des Massakers, wurden die Ergebnisse eines unabhängigen Architekturwettbewerbs zu Babyn Jar präsentiert. Chancen auf Verwirklichung hat keiner. Denn gleichzeitig kam privates Geld ins Spiel. Oligarchen, fast alle jüdischer Abstammung und gut vernetzt mit Russland, gründeten mit anderen einflussreichen Persönlichkeiten eine Stiftung: das Babyn Yar Holocaust Memorial Center. Sie denken groß, ihre Verbindungen zur Politik sind eng. Jetzt bauen sie es auf dem Gelände. Bauen es auf Tote.
Bei einer Pressekonferenz kurz vor der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag sitzen sieben Männer des Stiftungsrats auf dem Podium, darunter die Oligarchen Mikhail Fridman, German Khan oder Victor Pinchuk, aber auch Wladimir Klitschko, Bruder des Kiewer Bürgermeisters. Sie haben es sich zu eigen gemacht, dass des Holocausts gedacht werden müsse in Babyn Jar, denn 80 Jahre sei nichts passiert, wie einer sagt. „Wir sind das erste Holocaust Memorial Center, das direkt am Ort des Geschehens gebaut wird“, sagt ein anderer. Den künstlerischen Leiter, Ilya Khrzhanovsky, der, so der Vorwurf, in seinen früheren Projekten manipulatives und übergriffiges Verhalten förderte, nennen sie „ein Genie“. Fragen danach, wie sie die Zivilgesellschaft einbeziehen, ob sie die Disneylandisierung des Gedenkens vorantreiben, ob es später Eintritt kosten wird, schmettern sie ab.
„Sie machen das, was die Leute bisher gemacht haben, klein, wischen es vom Tisch“, sagt Hanna Hrytsenko.“
Und so ist es ja auch. Im Entstehen ist eine von Kunst inspirierte Holocausterlebniswelt, die vor allem die Verbrechen an den Juden thematisiert. Immerhin, sie wird Menschen aus aller Welt anziehen. Damit sie erfahren, was hier geschah.
Das Babyn Yar Holocaust Memorial Center hat zum Jahrestag mehrere Installationen dem Publikum übergeben. Darunter das Spiegelfeld des Künstlers Denis Shibanov und des Sounddesigners Maksym Demydenko. Ein glänzendes Metallfeld mit Stelen, das die Erde durch die Spiegelung mit dem Himmel verbindet. Die Metallflächen wurden durchlöchert und zwar mit Kugeln desselben Kalibers, mit dem auch die Nazis in Babyn Jar schossen. Dazu wurden die Namen von Opfern in Sound umgesetzt, die Vibrationen hämmern gegen die Platten und stören den Gang.
Fragile Koordinaten
Die Installation arbeitet mit der gleichen Bildsprache wie das Holocaustmahnmal und der Garten im Jüdischen Museum Berlin: Alle drei zeigen, wie fragil die Koordinaten sind, auf die man sich als Mensch verlässt. Auf Orientierung, Gleichgewicht, auf das, was man kennt.
Diese Installation verbindet das Land der Opfer mit dem Land der Täter. Was es nicht löst: Der Ort, wo gedacht wird, müsste in Deutschland sein, wie der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker sagt. „Die Deutschen müssten wissen, was Babyn Jar war.“
Verbindend ist auch die Musik, die bei der Gedenkveranstaltung aufgeführt wurde. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin war eingeladen, Schostakowitschs Sinfonie „Babi Jar“ zu spielen. Er hatte Anfang der 60er Jahre ein Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko vertont und damit dazu beigetragen, dass über Babyn Jar in der Sowjetunion gesprochen wurde.
Paul Celan übersetzte ein paar Zeilen daraus so: „Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin – bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und abertausend Begrabene hin.“
Und musikalisch? Da wird sanfte Melodie verdrängt von einem unerhörten Zusammenspiel von allem, zusammengehalten von tiefen Männerstimmen, die etwas wie Trost und Sanftheit und Seele sind. Nur nicht für lange. Schon schlägt die Musik wieder dagegen, wird Schrei und Geplärr und wieder kommt doch auch Sanftheit und Linderung. Und draußen, auf der anderen Seite des durchsichtigen Zelts, ist Wind, der die trockenen Blätter wiegt.
Warum nur tiefe Stimmen, wird der Dirigent Thomas Sanderling, der russisch-deutsch-jüdischer Herkunft ist, gefragt. Er kannte Schostakowitsch gut. Müsste da nicht Schreien und Wimmern sein? Es sei Schostakowitsch nicht darum gegangen, ein Bild zu zeigen. „Die Aufgabe für Schostakowitsch war, sich zu empören“, antwortet er.
Und was machen die Kiewer und Kiewerinnen? Sie haben tags darauf einen Stolperstein verlegt für Dina Pronitschewa, die Babyn Jar überlebte, aus der Grube kroch und Zeugnis ablegte schon 1946 vor Gericht.
Denn es gibt nur Worte. Und die Musik. Und Gras, das auf Toten wächst.
Die Recherche für diesen Text wurde unterstützt vom Auswärtigen Amt.
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