Hamburger Filme auf dem Filmfest Hamburg: Universell und geerdet
Beim Filmfest Hamburg laufen das Ehedrama „Ein großes Versprechen“, der Avantgardefilm „Tscherwonez“ und eine Liebeserklärung an Jonas Mekas.
„Ich kann das alleine!“, sagt Juditha immer wieder. Selten wird ein Dialogsatz im Kino so oft wiederholt und nicht viele sind so vernichtend. Denn Juditha kann immer weniger allein machen. Sie leidet an Multipler Sklerose, verleugnet aber, dass die Krankheit schlimmer wird. Sie lässt sich nicht helfen, geht nicht zu ihren Arztterminen und spielt ihrer Tochter vor, in ihrer Ehe mit Erik sei alles in Ordnung. Doch der sieht, dass sie sich immer weniger bewegen kann, dass sie hinfällt und dann hilflos liegen bleibt, dass sie immer freudloser dahinlebt, weil ihre Selbsttäuschung ihr jede Lebensenergie raubt.
Dass die beiden sich immer noch lieben (der Film beginnt mit einer sinnlichen Bettszene der über 60-Jährigen), macht es im Grunde nur noch schlimmer. Denn was die eine fühlt, muss auch der andere erleiden. Wie viel Freiheit können sie einander unter diesen Umständen noch geben? „Ein großes Versprechen“ (Fr, 1. 10. 18 Uhr, Cinemaxx 1) ist der kluge Titel dieses Spielfilmdebüts von Wenda Nölle, das sie im Rahmen des NDR-Nachwuchsprogramms „Nordlichter“ inszenieren konnte. Das Versprechen ist die Ehe, und hier wird von deren „schlechten Tagen“ erzählt.
Im Grunde ist dies ein Zweipersonenstück. Eine gemeinsame Tochter und die Ex-Kolleg*innen des pensionierten Universitätsprofessors Erik haben nur kurze Gastauftritte. Und Nölle lotet diese Beziehung auch tief aus. Man glaubt ihr, dass sie hier von zwei Menschen erzählt, die einander so gut kennen, wie dies nur möglich ist. Ein Blick, eine Geste, ein Wort, von dem man weiß, wie tief es den anderen trifft – dies sind die Mittel, mit denen sie hier arbeitet.
Und man merkt, dass sie von Haus aus Dokumentarfilmerin ist, denn nicht nur die Menschen, sondern auch die Räume, in denen sie sich bewegen, wirken absolut authentisch. Nölle hat „Ein großes Versprechen“ in Hamburg und Umgebung gedreht. Sie weiß, dass man solch eine Geschichte, gerade weil sie so universell ist und überall passieren kann, genau verorten und dadurch erden muss.
Filmfest Hamburg: bis 9. 10. in den Kinos Abaton, Cinemaxx Dammtor, Metropolis, Passage und Studio-Kino; Das Programm gibt es hier.
Und man braucht Darsteller*innen, die sich diese Figuren radikal zu eigen machen. Erik wird von dem schwedischen Schauspieler Rolf Larsgaard verkörpert, der durch die beiden Krimiserien „Beck“ und „Kurt Wallander“ bekannt wurde. Hier spielt er Erik als einen lebensfrohen älteren Mann voller Energie, der langsam daran zerbricht, dass er seiner Frau nicht helfen kann, weil diese sich nicht helfen lassen will. Und Dagmar Danzel ist ihm mindestens ebenbürtig als eine Frau, die mehr durch ihre Angst als durch ihre Krankheit gelähmt ist und deshalb nicht wahrhaben will, dass ihr gemeinsames Leben in Stücke fällt.
Es ist ein unbequemer, doch wahrhaftiger Film, der so naturalistisch konzipiert ist, dass es schon fast wie ein Stilbruch wirkt, wenn Juditha einmal einen Brief von Erik liest und man dazu dessen Stimme im Off hört.
Beim Filmfest Hamburg werden traditionell in der Hamburger Filmschau die neuen Arbeiten von Filmemacher*innen aus der Stadt vorgestellt. Seit vielen Jahren ist der Guerilla-Filmemacher Peter Sempel hier schon Stammgast, und diesmal stellt er „Jonas in den Feldern“ (Sa, 2. 10., 21.30 Uhr, Metropolis) vor. Dies ist bereits sein vierter Film über die Ikone des Independent-Kinos, Jonas Mekas. Nach dessen Tod im Jahr 2019 musste er ihn wohl einfach machen.
Sempels Filme über Mekas sind Liebeserklärungen an diesen Ersatzvater, der ihm den Weg zu seiner Art des Filmemachens wies: „Du brauchst kein Geld, um einen Film zu machen“, sagt Mekas auch hier wieder. An diesen Rat hat Sempel sich immer gehalten. In „Jonas in den Feldern“ begleitet er den über 90-Jährigen in den letzten Jahren seines Lebens. Mekas kocht, isst, trinkt und macht eine letzte Reise in sein Geburtsland Litauen.
Vor allem ist er aber in der Rolle des Künstlers zu sehen, der sein Werk ordnet und präsentiert. Er liest aus seinen Tagebüchern, wird auf Ausstellungen gefeiert und plant die Herausgabe eines neuen Bandes mit Texten, die er vor über 70 Jahren geschrieben hat. Er liest aus seiner FBI-Akte vor, dass ihm dort „the mind of a child“ attestiert wird – und versteht dies als ein großes Kompliment.
Sempel folgt ihm mit einem liebevollen Blick und er hält sich diesmal mit seiner berühmt-berüchtigten assoziativen Schnitttechnik auffallend zurück. Im letzten Drittel zeigt er sogar minutenlange, fast ungeschnittene Sequenzen von den Reden, die Mekas Freunde und Bewunderer auf dessen Memorial in New York gehalten haben.
Bei Mekas Beerdigung in Litauen ist er mit seiner Kamera natürlich auch mit dabei. Dort untermalt er seine Bilder vom Grab mit klassischer Orgelmusik. Ein stilistisches Klischee in einem Sempel-Film! Mekas hätte ihn sicher dafür getadelt.
In der Filmschau laufen nicht nur neue Filme. Gábor Altorjays Schwarz-Weiß-Film „Tscherwonez“ (So, 2. 10., 15 Uhr, Metropolis) wurde 1982 in Hamburg und von dem Gründer des Abaton-Kinos, Werner Grassmann, produziert. Altorjay, in den 1960er-Jahren aus Ungarn nach Deutschland geflohen, war damals Teil der Fluxus-Bewegung. Das erklärt die eher sprunghafte Erzählweise seines Films, der jetzt in einer neu restaurierten Fassung gezeigt wird.
Darin gibt es eher zu viel Handlung als zu wenig, denn ein sowjetischer Matrose, der in Hamburg ohne Erlaubnis auf Landurlaub geht, wird vom KGB, dem Verfassungsschutz und einem Sensationsreporter verfolgt. Aber zu einer schlüssigen Erzählung, die Interesse an ihren Figuren weckt, fügt sich all dies nicht zusammen.
Sehenswert ist „Tscherwonez“ aber dennoch als eine bizarre Zeitreise in das Hamburg der frühen 1980er-Jahre mit Transsexuellen in St. Pauli, viel Peng, Peng im Hamburger Hafen und einem Russen, der das Bismark-Denkmal für Lenin hält. Langweilig wird der Film nie, denn Altorjay scheint alles in ihn hineingepackt zu haben, was ihm und seinen Freunden gerade so einfiel. Dafür spricht auch eine schöne Rubrik im Abspann. Neben Kamera und Musik (von der deutschen New-Wave-Band „The Wirtschaftswunder“) wird da für „kleine schmutzige Ideen“ gedankt. Solch ein Film kann gar nicht schlecht sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!